Übrigens …

Shatter This Rock im Schauspielhaus Düsseldorf

Fulminante Riot Girls

Die Werte der modernen Zivilisation gilt es zu verteidigen.“ Wie oft haben wir diesen Satz in Sonntagsreden oder aufrüttelnden Appellen westlicher Politiker schon gehört, wenn es um den Ukraine-Krieg geht. Wie viel intensiver klingt der Satz, wenn er in einer Rede der ukrainischen Friedensnobelpreisträgerin und Menschenrechtsanwältin Oleksandra Matwijtschuk vorkommt, die zu Beginn der nagelneuen Performance der Kiewer Dakh Daughters in deutscher Übersetzung eingespielt wird. Und wieviel Dynamik und Überzeugungskraft gewinnt dieser spröde Satz, wenn er in dem mitreißenden Punk-Rock- und Ethno-Pop-Konzert der ukrainischen Gruppe durch Lieder, Texte und Bilder unterstrichen und bebildert wird. Shatter This Rock!, heißt es in einem der zentralen Punk Songs in dieser Performance: Auf einem Video wird ein riesiger grauen Felsbrocken zerstört, und eine der Performerinnen haut dazu kräftig auf die Pauke. Die Beharrungskraft eines alten Systems, das an der Autokratie und dem Kolonialismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts festhält und unsere westliche Demokratie und die dieser Demokratie verpflichtete Ukraine zerstören will, muss zerschmettert werden.

Wohl gemerkt: die Aggressoren und die politisch mittelalterlich anmutenden Beharrungskräfte sind gemeint, nicht die Menschen, die im Land des Aggressors leben. Auch das macht ein Video der Dakh Daughters deutlich. Zum Text von Oleksandra Matwijtschuk flimmern Videoanimationen mit geradezu kitschig anmutenden idyllischen Bildern von Kleinstädten und Landschaften in den ukrainischen Landesfarben über die brüchige Videowand. Als kurz darauf stilisierte Friedenstauben auftauchen, verwandeln sich die Farben in ein Weiß-Rot-Blau – ein Angebot an die russischen Aggressoren? – Vermutlich nicht; es wäre das einzige an diesem Abend. Aber es wirkt doch wie ein dezenter Hinweis auf eine Sehnsucht nach friedlicher Koexistenz. Neben den Begriffen „Frieden“ und „Freiheit“, die in allen während des Festivals gezeigten Aufführungen im Zentrum stehen, fällt auch der Begriff „Würde“. Die Würde geht in kriegerischen Zeiten schnell verloren.

Die Videobilder sollte man bei den Songs der Dakh Daughters niemals aus dem Auge verlieren; sie strotzen nur so von allegorischen Darstellungen und Metaphern. Leonardo da Vincis Vitruvianischer Mensch taucht auf: „Der Mensch hat Arme, Kopf und Beine, … doch warum gibt es so viel Böses auf der Welt“, heißt es in dem zugehörigen Songtext. Die Antwort ist schnell gefunden: „Der Mensch kann logisch denken, aber er hat keinen Verstand.“ Allegorische Märchen werden mit Bildern aus Butscha, von Explosionen sowie von den Zerstörungen durch russische Bombenangriffe unterlegt, Bibeltexte von den drei Engeln der Apokalypse werden zitiert, Ungeheuer wie von Hieronymus Bosch ersonnen auf die Videowand projiziert – und in weniger subtilen Momenten werden Hakenkreuzfahnen und das „Z“ als Symbol der russischen „Spezialoperation“ gegeneinander geschnitten. Bilder von ikonischen europäischen Gebäuden wie dem Eiffelturm sowie von Kunstwerken aus verschiedenen Jahrhunderten demonstrieren dem Wunsch des Landes nach Zugehörigkeit zum Westen – und zwar anders als es die Dakh Daughters in diesen Monaten und Jahren erfahren: Die sind zwar nach wie vor dem Dakh Contemporary Art Center und dem Teatr Dakh in Kiew angegliedert, aber sie haben inzwischen am Centre Dramatique National de Normandie im französischen Vire Asyl gefunden – mit kurzen französischsprachigen Texten erweisen sie dem ihre Reverenz. Appelle zur Übernahme von Verantwortung werden nicht nur an die westlichen Politiker, sondern auch an die eigene Bevölkerung gerichtet – gekleidet in kleine Geschichten oder Gleichnisse. Doch wenn eine der Performerinnen mit staatstragendem Ernst und süffisanter Ironie ein „We are all very concerned“ ins Publikum spricht, weiß jeder, wer gemeint ist. Dann lachen die ukrainischen Zuschauerinnen und Zuschauer bitter auf. „Concerned“ reicht nicht gegen verbrecherische Machtpolitiker wie Putin; das sollten wir alle inzwischen begriffen haben

Wie soll man sie bezeichnen, die phantastischen sieben Frauen, von denen fünf beim Ukraine-Festival am Düsseldorfer Schauspielhaus auf der Bühne stehen? „Intellektuelles Freak-Kabarett“, schreiben die Veranstalter, andere sprechen von einer „Poesie des Zorns“, die die Damen auf die Bühne bringen. Das alles ist richtig; insbesondere die Verbindung von hoher Intellektualität und Punk ist bemerkenswert, wenn nicht gar einzigartig. Aber all das ist nur ein Teil dessen, was die Gruppe verkörpert. Beim Euromajdan stärkten sie mit ihren Auftritten die Durchhaltekräfte der prowestlichen Barrikadenkämpfer. Natürlich gibt es auch in Düsseldorf zum Schluss noch einmal das Lied von den Donbass-Rosen, die Hymne des Euromajdan, die die fulminanten Riot Girls und Ethno-Punk-Interpretinnen bekannt gemacht hat und die seitdem in keinem ihrer Konzerte mehr fehlen darf. Seit der Eskalation des seit 2014 währenden Ukraine-Kriegs vor 777 Tagen sind die Dakh Daughters endgültig unter die politischen Aktivistinnen der Kunst-Szene gegangen. Sie sind laut, sie lärmen, sie dröhnen auf der Bühne – und sind doch ganz herausragende, sensible Musikerinnen, die auch ganz melodische Töne anschlagen können. 15 Instrumente sind es angeblich, die sie in diesem Konzert zum Klingen bringen. Der Schreiber dieser Zeilen hat nicht mitgezählt, aber es sind Instrumente der klassischen Musik wie Violine und Kontrabass, Cello und Gitarre, Pauke und auch einmal das Akkordeon. Mit dieser klassischen Instrumentierung spielen sie Punk Musik, passen sie ukrainische Volkslieder an ihre harten Rhythmen an, vertonen sie lyrische Texte von Shakespeare oder dem ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko und anderen. Ihrer Power kann sich niemand entziehen. Wo immer Ihnen diese wilde, anarchische Truppe über den Weg läuft: hingehen!