„Der schlimmste Feind der Wahrheit ist die liberale Mehrheit.“
Die Idylle in der kleinen norwegischen Stadt scheint perfekt. Innerhalb kürzester Zeit ist aus dem tristen Städtchen ein mondäner Badeort mit florierendem Tourismusgeschäft geworden. Zu verdanken haben die Stadtbewohner den neuen Wohlstand dem neuen Heilbad, das durch eine Idee des Arztes Dr. Stockmann und durch die Tatkraft seines Bruders, des Bürgermeistes Peter Stockmann, gegründet wurde. Thomas Stockmann ist nicht nur Kurarzt, sondern auch bestens mit Hovstad, dem Chefredakteur des „Volksboten“, und Frau Aslaksen, der Vorsitzenden des Hauseigentümerverbandes und Zeitungsverlegerin, befreundet. Doch dann stellt Dr. Stockmann fest, dass die Abwässer – ausgerechnet aus der Gerberei seines Schwiegervaters – oben im Tal durch giftigen Schaum kontaminiert sind. Auch die Wasserleitungen sind fehlgeplant. Stockmann ist euphorisiert von dieser Entdeckung und will seine Erkenntnisse publik machen, ehe die ökologische Katastrophe erste Todesopfer fordert. Zunächst findet er Unterstützung durch die Presse, die in dem Skandal eine Chance sieht, die Machtverhältnisse in der Stadt neu zu ordnen. Doch als klar wird, dass die Sanierungsarbeiten langwierig sein würden und mehrere Millionen kosten könnten – Geld, das die Stadt nicht hat -, schlägt die Stimmung um. Wäre das doch das Ende des Tourismus und des Wohlstandes. Aus dem wahrheitsliebenden „Volksfreund“ wird der gehasste Volksfeind.
Henrik Ibsen schieb sein Stück 1883, als in Europa die Frage nach der richtigen staatlichen Ordnung heiß umkämpft wurde.
Im Theater Mönchengladbach gelang Christoph Roos eine mitreißende Inszenierung des Klassikers. Helena Gossmann verkörpert grandios die Badeärztin Dr. Stockmann, die sich von ihrem Ziel nicht abbringen lässt. Weder durch ihren, sie auf unterschiedliche Weise unter Druck setzenden Bruder Peter Stockmann, noch durch die opportunistische Presse. David Kösters überzeugt als fürsorglicher Ehemann, der sich um das Kind kümmert und den Haushalt führt. Paul Steinbach brilliert als Bürgermeister, der alle Register zieht. Vom Vorwurf, Katharina wolle die Heimatstadt ruinieren, bis hin zu blanker Drohung, sie selbst in den finanziellen Ruin zu treiben. Ja, er bezeichnet sie sogar als „Feind der Gesellschaft“. Eva Spott verkörpert großartig die wortgewandte Geschäftsfrau und Zeitungsherausgeberin, die ihren Meinungswandel geschickt zu begründen weiß. Da können Hovstad (Nicolas Schwarzbürger) und der Redakteur Billing (Christoph Hohmann) nur letztendlich ihr folgen. Michael Grosse gibt eindrucksvoll Morten Kiil, Katharinas skrupellosen Schwiegervater.
Roos hat eine grandiose Idee, wenn er nach der Pause die Perspektiven vertauscht. Es kommt zur Bürgerversammlung und wir, das Publikum, sind die Bürger. Auch die Mitwirkenden verteilen sich im Zuschauerraum.Nur Katharina Stockmann steht allein auf de Bühne. Frau Aslaksen versucht immer wieder, Katharinas emotionalen Kampf gegen das drohende ökologische Desaster zu unterbrechen und Gegenstimmen aus dem Publikum zu gewinnen. Fragen wie „Wer entscheidet, was gut ist für die Stadt?“ und „Darf die Mehrheit bestimmen?“ provozieren so manche Antwort. Obwohl natürlich die Mehrheit nicht unbedingt im Recht sein muss, nur weil sie die Mehrheit ist. Fragen, wie sie heute aktueller sind denn je.
Das Bühnenbild unterstreicht die Zeitlosigkeit des Stückes, ist es doch neutral gehalten: orange, gelbe und rote Kacheln, ein Küchenblock – kein Indiz für eine bestimmte Zeit.
Ein Abend, der absolut beeindruckt, der zu Diskussion auch nach dem Theaterbesuch einlädt. Begeisterter Applaus, auch Standing Ovations, für eine kluge Inszenierung und ein exzellentes Ensemble.