Übrigens …

Falsch im Wuppertal, Schauspielhaus

Zur Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Wahrheit

Auf dem Weg vom Parkplatz zum Theater am Engelsgarten sind die Engel schon zugange: Ein heruntergekommener älterer Mann, der äußeren Erscheinung nach schwer alkoholkrank, moppert lautstark ein gut gekleidetes älteres Ehepaar an, weil es angeblich auf einem Anwohnerparkplatz geparkt habe. Er droht dem Paar mit einer Anzeige. Der gut gekleidete Herr keilt zurück: „Tun Sie das. Dann werden Sie keine Ruhe mehr haben, das verspreche ich Ihnen!“ - Engel eben... - Mutmaßlich war der Alki im Recht. Aber weiß man das so genau? Ob es wirklich das Auto des Ehepaars war, das der Schreiber dieser Zeilen diesem zuschrieb? Ich kenne deren Auto nicht…

Zwanzig Minuten später im Theater. Ge, ein etwas heruntergekommener mittelalter Mann, hat einen Autounfall beobachtet. Sis und Kat, zwei ziemlich aufgebrezelte Schwestern, haben bei der Rückkehr von einer Familienfeier eine Fahrradfahrerin angefahren und tödlich verletzt. Ge hat das Geschehen bei der Polizei zu Protokoll gegeben. Er kann das Auto exakt benennen: Marke, Farbe, Typenbezeichnung und Nummernschild. Wenn man Sis und Kat bei ihrer Konversation zuhört, war Ge mutmaßlich im Recht. Aber weiß man das so genau?

„Wer fährt?“, fragt der Schreiber dieser Zeilen die beste Ehefrau von allen regelmäßig, sobald der Gastgeber oder die Gastgeberin einer Feier das erste Glas Wein eingießt. So war das wohl auch bei Sis und Kat. Kat hatte sich bereiterklärt zu fahren. Aber Kat ist Alkoholikerin und hat angabegemäß beim Unfall sturzbetrunken auf der Rückbank geschlafen und nun einen totalen Filmriss. Sis behauptet, nur einen Leitpfosten am Straßenrand angefahren zu haben. „Ist das die Geschichte, bei der wir bleiben?“, fragt Kat und meint offenbar nicht nur den Leitpfosten. Erfinden sich die beiden Schwestern gerade ihre eigene Version der Wahrheit? - Ge, der leicht derangierte Mann, der alles beobachtete, hat einen seriösen Beruf: Er ist Zellbiologe. Merkwürdigerweise hat er sich in ein Einsiedlerdasein in den Wald zurückgezogen. Noch merkwürdiger erscheint, dass er sich, an den Händen gefesselt, im Polizeigewahrsam befindet. Der Zellbiologe sitzt in der Zelle. Aus dem Off hören wir, wie die Polizeiprotokolle verlesen werden. Offenbar erscheint der Zeuge den Beamten irgendwie verdächtig. Warum reagiert Ge im Gespräch mit den Schwestern einmal so erschrocken - fast als fühle er sich schuldig? Als die Schwestern - spät erst - erfahren, dass das Opfer überlebt hätte, wenn es sofort versorgt worden wäre, fragen sie sich: Warum hat Ge der verletzten Fahrradfahrerin nicht geholfen? - Ach, vergessen wir’s! Die Angelegenheit scheint klar wie Kloßbrühe; es gibt keine Überraschungen und keinen wesentlichen Dissens, nur eine brüchige Verabredung zur Lüge. Im Verlauf der Gespräche an diesem Abend tritt die Wahrheit immer deutlicher zutage. Oder etwa nicht?

Der niederländischen Autorin Lot Vekemans geht es in ihrem Stück um die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Wahrheit, zwischen Perzeption und Wirklichkeit. Nicht zuletzt geht es auch um die unterschiedlichen Möglichkeiten, unsere Wahrnehmung von der Wirklichkeit zu beeinflussen - am Selbstbild und am Fremdbild zu malen, Lügen so lange zu wiederholen, bis man sie selbst glaubt, und vieles andere mehr. Lange plätschert die Inszenierung von Anne Mulleners auf der Ebene der boulevardesken Dialoge zwischen den beiden Schwestern dahin. Kat und Sis führen einen ziemlichen Zickenkrieg auf. Vor allem Julia Wolffs Kat nervt, weil sie im „Warteraum“, wie sie die Zelle euphemistisch nennt, nicht eine Minute den Mund halten kann. Kat hätte wohl lieber ab und zu ihre Ruhe. Die beiden Schwestern sind Schauspielerinnen: Kat am Theater, Sis macht Fernsehen. Kat, deren Karriere sich dem Ende zuneigt, blickt auf ihre Schwester herab, die sich in der vermeintlich weniger anspruchsvollen Blase bewegt, und die setzt Nadelstiche wegen Kats Alkoholismus und ihres geringeren Wirksamkeitsgrades. „Theater ist doch nicht echt“, wirft Sis ein. Und Fernsehen ist echt und wahr? Das schicke lange neonrote Kleid, das Paula Schäfer als Sis zu den feschen langen Stiefeln trägt - spricht das für Authentizität? Oder ist es nicht ein (durchaus legitimes) Mittel der Selbstdarstellung, ein Mittel, um die Wahrnehmung der Außenwelt vom eigenen Ich zu beeinflussen? - „Das Lügen kommt bei mir ganz von selbst“, gesteht Sis später einmal. Wie war das mit dem Leitpfosten? Wer lange genug lügt, ändert ebenfalls seine Wahrnehmung, oder nicht?

Und Kat? „Ich glaube an Verantwortung“, wird sie einmal über sich sagen - das mutet etwas merkwürdig an bei einer Frau, deren aufgrund ihres Alkoholkonsums nicht eingehaltenes Versprechen, auf der Rückfahrt von der Feier das Auto zu fahren, zu einem tödlichen Unfall geführt hat. Wie sehr fallen bei ihr Selbstbild und Fremdbild auseinander? Selbst die Überwachungskameras in der Zelle beeinflussen noch ihre Selbstdarstellungsversuche.

Längst haben wir erfahren, warum Ge Handschellen verpasst bekommen hat. Sein Hund ist tot. Mutmaßlich hat das Tier einen der Polizisten angefallen - und der hat sich gewehrt. Worauf wiederum Ge den Polizisten angegriffen hat. Wer ist Sieger in diesem Kampf? „Siegen ist eine Interpretation der Wirklichkeit“, sagt Kevin Wilke als Ge. „Du denkst, dass du gewonnen hast, aber in Wahrheit…“ -

Wahrheit, Wirklichkeit, Wahrnehmung und Lüge – und Vergessen. Ge bringt mit seinen völlig anders gearteten Wortbeiträgen die intellektuellere, aber auch die erschreckendere, unmenschlichere Note in das Stück und die Aufführung ein. Er spricht von seinen Erkenntnissen als Zellbiologe. Seit Darwin sei dem Menschen eingeredet worden, dass er durch seine Gene bestimmt sei. Doch seien es nicht die Gene, sondern die Zellen, die uns definieren. Und diese seien durch unsere Umgebung bestimmt – nicht durch die geographische, sondern durch unser Umfeld. Daher seien sie beeinflussbar und programmierbar. Es gebe eine objektive Wirklichkeit, behauptet Ge: „Wir müssen nur genau genug hinschauen.“ Ausgerechnet der Außenseiter der Gesellschaft propagiert den genetischen - Verzeihung: zellbiologisch umprogrammierten - Menschen. Ob das dann noch ein Individuum ist, bleibt dahingestellt. Sis und Kat haben gerade vorexerziert, wie man die Wahrnehmung von der Wirklichkeit auf ganz individuelle Weise umprogrammiert - so, dass letztendlich jeder seine eigene Wahrheit hat. Die ist fast immer irgendwie falsch. Aber eine Programmierung durch die Wissenschaft kommt uns auch nicht gerade richtig vor…

Wie das nun war mit dem Autounfall, wollen Sie wissen? Am Ende ist nichts mehr gewiss. Aber es interessiert auch nicht mehr. Es sind größere Fragen, die in diesem Stück gestellt werden. Falsch wurde im Jahre 2014, dem Jahr nach seiner Uraufführung, von der Königlichen Akademie für Niederländische Sprache und Kultur als bestes Stück des Jahres ausgezeichnet. Das lässt sich anhand der Inszenierung von Anne Mulleners nicht wirklich nachvollziehen. Aber auch die Wuppertaler Aufführung bietet komplexen Diskussionsstoff und ist gerade in unserem Jahrzehnt des endgültigen Durchbruchs der KI hochaktuell. Das Nebeneinander von Boulevardtauglichkeit und Intellektualität, das Vekemans‘ Stück charakterisiert, geht allerdings in Wuppertal nicht auf. Sowohl das eine als auch das andere bleibt papieren und seltsam unverbunden. Um nachhaltig zu überzeugen, bedarf es wohl einer phantasievolleren Inszenierung und eines variableren, souveräneren Spiels.