Zweimal Lady Tartuffe - ganz ohne Moliere
Beim Namen Tartuffe fällt wohl den meisten Molières Heuchler und Betrüger aus dem Jahr 1664 ein. Die Lady müsste dann wohl seine Gattin sein. Dem ist aber nicht so. Vielmehr ist es der bös gemeinter Spitzname der Titelfigur Virginie de Blossac aus der 1853 in Paris uraufgeführten Tragédie Lady Tartuffe, deren intrigante Scheinheiligkeit auf das Molière’sche Vorbild verweisen soll. Ein Erfolgsstück in der Pariser Kulturszene, geschrieben von der gebürtigen Aachenerin Delphine Gay, allerdings herausgegeben unter dem Namen des Ehemanns Émile de Girardin, einem wichtigen Zeitungsverleger, übrigens ein Pionier des neuen Massenmediums seiner Zeit. `
Wer kennt sie heute noch, diese erfolgreiche Schriftstellerin Delphine Gay (deren sechsbändiges Gesamtwerk allerdings 1860 gleichfalls unter dem Namen Madame Émile Girardin erschien)? Wiederentdeckt hat sie das Autor:innen –Duo Stuhler-Koslowski, das gemeinsam mit dem Aachener Ensemble daraus einen unterhaltsamen und anregenden Komödienabend unter dem ausgeliehenen Titel Lady Tartuffe macht. Dabei handelt es sich nicht um eine Überschreibung oder feministische Umdeutung des alten Stückes, vielmehr um ein Fabulieren um eine fiktive Aufführung des Stücks und das gesellschaftliche Geschehen drumherum. Dazu versammeln Stuhler/Koslowski ein Arsenal zum Teil längst vergessener Persönlichkeiten des Kulturlebens zur Mitte des 19ten Jahrhunderts um die von Furkan Yaprak rasant gegebene Delphine Gay. Darunter der einzige Unvergessene, Karl Friedrich Schinkel, der wie Gay eine Beziehung zur Stadt Aachen hat: Er gehört zu den Architekten, die das Gebäude des Aachener Theaters entwarfen. Zur Erinnerung schleppt er ständig ein Modell des Hauses mit sich herum. Aus den deutschen Autorinnen Charlotte Birch-Pfeiffer und Johanna Franul von Weißenthurn wird auf der Bühne die Schriftstellerin Jeanne Franul Pfeiffer (temperamentvoll gegeben von Luise Berndt). Beide Bühnenautorinnen wurden übrigens zu ihrer Zeit mehr gespielt als die Großen Schiller oder Goethe. Zur Bühnen-Clique gehören noch die Autorin Maria Johanna von Aachen (humorvoll gegeben von Irina Popova - wobei der Name des Adelsgeschlechtes nichts mit der Stadt Aachen zu tun hat) und die Malerin Rosa Bonheur (brillant: Nola Friedrich), die beide auch so gut wie vergessen sind.
Alle diese Frauen, die es zu ihrer Zeit zu künstlerischer Anerkennung gebracht haben, stehen fürs Vergessen - aber vielleicht eines Tages doch noch fürs Erinnern. Darum geht es mit diesem Stück: ums Vergessen und Erinnern.
Auf der Vorbühne beginnt ein aufgeregtes Spiel: in historisierenden, aufgeputzten Kostümen wird beschuldigt, unterstellt, gelogen, beleidigt und versöhnt: die Schlussszene aus Delphine Gays Lady Tartuffe. Wir sind im Paris 1853 am Schluss der Premiere, die hier in der Aachener Version floppte. Delphine ist außer sich: Eine Catastrophe! In allem Kummer gibt’s doch noch Raum für ein paar Seitenhiebe auf Shakespeare und vor allem auf die Berliner, die nur „über Soldaten und Kartoffeln“ schreiben können. Völlig entnervt flieht Gay das Pariser Kulturleben, bricht in die Heimat ihrer Kindheit auf: nach Aix – doch nicht ins schöne Aix en Provence, wie alle um sie herum glauben, nein – nach Aix-la-Chapelle, ins preußische Aachen. Die selbstbewusste Malerin Rosa Bonheur (deren 125. Todestag auf den Aachener Premierentag fiel) und (der im wirklichen Leben schon 1841 verstorbene) Karl Friedrich Schinkel – ein in seinem rosa Jäckchen mit breiter Rückenschleife etwas albern wirkender Jüngling – begleiten die Diva in der Kutsche – nachdem das Horrorbild einer Eisenbahnfahrt ent- und verworfen wurde.
In Paris beraten sich die Zurückgelassenen: Ehemann Émile, Dramatikerin Jeanne und der polnische Revolutionär Jaroslaw Dabrowski (unauffällig gespielt von Shehab Fatoum), dessen Revolution darin besteht, zu „diskutieren und … sich Alternativen vorzustellen“. Ansonsten fühlt er sich wohl im Klima der Salons. Trotz aller Ängste und Vorurteile gegen eine Eisenbahnfahrt - es könnte ja passieren, dass die Körper schon in Aachen sind „während die Geister noch in Paris ihr Unwesen treiben“- wagen sie schließlich, sich dem mit 50 Stundenkilometern dahinrasenden Ungetüm auszuliefern, um so die Entflohenen einzuholen. Das Schicksal will es, dass beide Gruppen in einem Wald nahe Aachen stranden und in der gleichen Hütte unterschlüpfen müssen.
Die Bühne dreht sich und was bisher als raumgreifende Videowand diente, wird zum Hüttendach, das auch mal als Kletterbalken oder Versteck genutzt werden kann. Was sich darunter bei Tag und Nacht abspielt, bietet ein Kaleidoskop kultureller und gesellschaftlicher Eindrücke jener Zeit von heute aus gesehen, wie Essgewohnheiten und Rollentausch. Vieles kreist ums Vergessen uns Erinnern, so gibt’s Bruchstückhaftes Erinnern an Duelle und Rivalitäten. Ganze Wortkaskaden zu einzelnen Begriffen , so zur Taschentheorie, der Tasche als Behältnis der Unordnung, vom Gebrauch beim Sammeln der Nahrung zu Urzeiten bis zum Internet. Oder Wortungetüme um die Kartoffel als „Kaiserin der Knollenfrüchte“ und „Pommes Trikolore“ bis zur Allerwelts-Kartoffel.
Dann wird’s surreal: in einem Zwischenspiel erscheint Napoleon als Arme Seele, wendet sich direkt ans Publikum mit der Mahnung: „Ernten Sie Ihre Trauben. Und zwar rechtzeitig!“, da es sonst nur noch Rosinen sind. Auch rät er, einen „Hit“ zu schreiben. Er ist sich sicher: „Mein Kot wird mich überleben. Als Kot Napoleon“. Das Publikum geht aufmerksam mit, reagiert auf Ironie und Humor, lacht, wenn es was zu lachen gibt. Dann kommen alle in weißem Nachtzeug und blauen Strümpfen (das Rot fehlt), tanzen ein bisschen zu lange zur Musik aus dem Off und legen sich schlafen.
Vorhang schließt. Vorhang öffnet sich zum 3. Akt. Der fällt aus. Vorhang schließt sich
Im Epilog erfahren wir, dass Delphine sich im Traum wieder einmal als Jeanne d’Arc erlebte und irgendwann erklärt sie auch allen, die ihr Stück nicht verstanden haben, dass es doch ganz einfach sei: Lady Tartuffe „will den reichen Alten mit dem Titel UND den jungen heißen Geliebten. (Ich) Sie will finanzielle Absicherung und sexuelle Aventüren“.
Zum Schluss geht’s ums Theater. Auguste, der Edelkoch, erklärt, dass er es liebe, aber nicht mehr hingehe. Er berichtet von einem Stück, dessen Autor gerade gestorben sei. Sie imitieren seinen Stil. Zweifellos sind wir damit im Hier und Heute, gemeint ist vermutlich René Pollesch, auf dessen postdramatischen Theaterstil ganze Passagen des Stücks hindeuten. Auch die kollektive Zusammenarbeit bei der Texterstellung von Stuhler &Koslowski mit dem Ensemble scheint der Arbeit Polleschs ähnlich zu sein. Das Publikum bejubelte einen spielstarken Theaterabend.