Übrigens …

Novecento oder Die Legende vom Ozeanpianisten im Schauspielhaus Düsseldorf

Eine Welt mit 88 Tasten

Manchmal, in den seltenen Momenten, in denen Opa zurückblickte, erzählte er von der Jahrhundertwende. Mein Opa war damals sieben Jahre alt, und er erinnerte sich, wie die Menschen das Neue Jahr begrüßten: „Hurra, 1900 ist da!“ Den Helden in Alessandro Bariccos vor dreißig Jahren erschienener Geschichte hat wohl niemand mit „Hurra“ begrüßt. Er ist ein Findelkind, das gleich nach seiner Geburt ausgesetzt wurde. Der Heizer eines Schiffes hat das Baby gefunden und gegen jede Vorschrift mit an Bord der „Virginian“ genommen. Das Kind wurde niemals behördlich registriert, verfügt über keine Ausweispapiere, keine Nationalität, keine gesicherte Herkunft. Man schrieb das Jahr 1900, und so nannte man den Jungen einfach Novecento.

Mittlerweile herrscht Krieg; die „Virginian“ ist als Passagierdampfer außer Dienst gestellt und zum Lazarettschiff geworden. Der verarmte Musiker Tom Tooney, ein mittelmäßiger Jazz-Trompeter des ehemaligen Bordorchesters, erzählt Novecentos Geschichte. Der Junge wächst an Bord auf, sitzt in der Ecke, wenn das Orchester spielt, und hört zu. „Wir spielten, weil der Ozean groß ist und Angst macht“, sagt Yascha Finn Nolting als Ex-Trompeter in Anton Schreibers Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus. Angst kann er schon machen, denn die Anspielungen auf die „Titanic“ sind deutlich: „Wir tanzten mit dem Ozean Wiener Walzer auf goldenem Parkett“, heißt es unter einem großen, von der Decke herabschwingenden Kronleuchter. Unten im Bauch des Schiffes singt die 3. Klasse ihre eigenen Lieder. Der Kapitän der „Virginian“ heißt Smith - wie der des circa zehn Jahre zuvor untergegangenen Luxusdampfers.

Novecento dagegen hat keine Angst vor dem Ozean. Er ist verwachsen mit dem Schiff - und mit dem Orchester. Als Achtjähriger beginnt er dort am Piano zu spielen. Zu spielen? Zu zaubern, Töne hervorzulocken, die die Welt noch nicht gehört hat. „Einer der größten Musiker des 20. Jahrhunderts“ sei er gewesen, sagt Tim über seinen Freund, und vergleicht ihn mit dem virtuosen Klarinettisten Benny Goodman. Neue musikalische Anregungen findet Novecento vor allem in der 3. Klasse, wo Menschen aus allen Regionen der Welt logieren und die Musik ihrer Heimat mitnehmen. Aber es ist - irgendwann einmal - auch ein wahrer Genius der Musik an Bord, der den inzwischen legendären Ruf des Ozeanpianisten vernommen hat: Jerry Roll Morton, der sich selbst für den Erfinder des Jazz hält und die Tasten des Pianos zum Tanzen bringt als habe er vier Hände. Arrogant ist der Knabe, von oben herab behandelt er den „Matrosen“ N. - und fordert ihn zum musikalischen Duell. Der bleibt gelassen, lässt sich nicht herausfordern, unterspielt im Anschluss an Mortons kleine Zaubereien. Bis zur 3. Runde: Da hat Morton den kleinen Ozeanpianisten genug gereizt, und der greift in die Tasten: mit einer irrsinnigen Virtuosität und einem höllischen Tempo. Da spielen gefühlt keine vier Hände mehr, sondern ein ganzes Trio.

Aber Novecento bleibt nach diesem Duell verändert zurück. Nie hat er das Schiff verlassen. Trotzdem kennt er die Welt. Er weiß alles über die Paläste Indiens, die Götter Indonesiens, die Brücken und Restaurants in London und Paris. Denn Novecento liest. Er verschlingt nicht nur Bücher; auch Menschen versteht er zu lesen: Nicht nur ihre Worte, sondern auch ihre Blicke und Bewegungen erzählen ihm Geschichten. Und so hat Novecento in seinem Kopf längst eine Art interaktiver Weltkarte. Wozu dann das Schiff verlassen?

Nach der Begegnung mit Jerry Roll Morton macht er einen Versuch. In New York geht er von Bord. Das Meer will er sehen - das Meer, nicht vom Schiff aus, sondern vom Land. Doch auf der drittletzten Stufe hinab an Land bleibt er stehen. Denn was er sieht, ist ein endloses Meer von Häusern - und Land, soweit das Auge reicht. Novecento weiß: Sein Klavier hat 88 Tasten, und die Musik, die er auf diesen Tasten spielen kann, ist unendlich. Gäbe es dagegen unendlich viele Tasten, könnte man keine Musik mehr darauf spielen. Das ist für den Ozeanpianisten die Metapher für die Welt: Wenn man nicht sehen kann, wo die Welt und wo die Stadt aufhören, kann es keine sinnvolle Existenz für Novecento geben.

Tooney, der Freund und Trompeter, erkennt Jahre später, wie sinnlos es ist, Trompete zu spielen, wenn rund herum Krieg herrscht - Krieg, weil Machthaber sich ein weiteres Stück dieser unendlichen Welt einverleiben wollen. Zu diesem Zeitpunkt hat die „Virginian“ bereits einige Jahre als Lazarettschiff auf dem Buckel und ist völlig heruntergekommen. Sie wird mit Dynamit beladen und soll auf offener See gesprengt werden. Novecento lebt immer noch auf dem Schiff. Er weiß von den Plänen zur Versenkung der „Virginian“ und sieht seinem und seines Lebensraums Ende gelassen entgegen.

Alessandro Baricco hat einen wunderbar poetischen Text geschrieben. Er erzählt von einer ungewöhnlichen Freundschaft, von einem ungewöhnlichen, eremitenähnlichen, aber der Harmonie verschriebenen Außenseiter der Gesellschaft und von der Kraft der Phantasie. „Die Legende vom Ozeanpianisten“ ist eine große Liebeserklärung an die Musik (und zwar keineswegs nur an die Jazz-Musik). Die Musik spielt vom Band im Düsseldorfer Schauspielhaus, das eigentlich für die herausragende Musikalität seines Ensembles bekannt ist - vielleicht ist das eine kluge Entscheidung angesichts der behaupteten außerirdischen Virtuosität des Ozeanpianisten. Aber dafür gibt es jede Menge großartiger Steptanz-Einlagen. Der ukrainische Schauspieler und Step-Tänzer Yaroslav Ros gibt der Figur des staatenlosen, seine Heimat auf dem Schiff findenden, aber an Land verlorenen Novecento auch seine eigenen Erfahrungen von Flucht und Heimatverlust mit. Er tut dies nicht aufdringlich mit dem Zeigefinger, aber viele der Wissenden im Publikum werden diese Konstellation mitdenken. Ros, zottelig frisiert, mal rau, mal zart, umgibt seine Figur bisweilen mit einer geheimnisvollen Magie. Yascha Finn Nolting als Trompeter und Erzähler besticht durch die große Variabilität seiner Darstellung. Der akklamierte Abend mag ein wenig harmlos sein, aber er erzählt eine berührende, unterhaltsame und inspirierende Geschichte. Sein Erfolg dürfte garantiert sein.