Übrigens …

Pygmalion im Moers, Schlosstheater

Die Phänomene der Phonetik

Da unten kommt sie her, da, wo der Gullydeckel in den Abwasserkanal führt, wo die recht abstrakt wirkende Bühnenkonstruktion keinen aufrechten Gang mehr zulässt und wo der Londoner Nebel dichte Schwaden bildet. Nur kriechen kann man dort. Eliza Doolittle kommt aus der Gosse - Verzeihung: aus der Gasse, wie es in vornehmer Vokalverschiebung in Damian Popps Inszenierung häufiger heißt. „Als Tochter rentiert sie sich nicht“, wird Vater Alfred später einmal über das junge Mädchen sagen. Aber Eliza ist selbstbewusst; alles Kriecherische ist ihr fremd. Maditha Dolle gibt das Blumenmädchen am Schlosstheater Moers mit frecher Schnauze und herausforderndem Blick. Falls sie verletzlich sein sollte - in wenigen Situationen glaubt man das zu erkennen -, hat sie sich dagegen einen Panzer angelegt.

Charmant ist sie nicht, denkt man: Ihr lautes Organ kann einem schon mal auf die Nerven gehen. Und schon wird einem unbehaglich, denn man erkennt, dass man dem Stück und der Inszenierung zum ersten Mal auf den Leim gegangen ist: Der Gedanke entlarvt den eigenen bourgeoisen Hochmut. Immerhin: Vordergründig geht es in Bernard Shaws Pygmalion ja um die Sprach- und Sprecherziehung, und da gibt es Luft nach oben. Elizas Grammatik ist übel. Den working class accent, der in der klassenbewussten englischen Gesellschaft (und in etwas abgeschwächter Form auch in Deutschland) auch für das größte Genie ein Aufstiegshindernis darstellt, hört man Dolles Doolittle allerdings nicht an. Da hat die Spracherziehung in der Schauspielschule wohl eine für diese Rolle allzu erfolgreiche Arbeit geleistet. Trotzdem findet Professor Higgins das junge Mädchen „fürchterlich verdreckt“ und „herrlich ordinär“. Henry Higgins, der über die Phänomene der Phonetik forscht und sich selbst als „phänomenal“ besingt, will Eliza in die höchsten Kreise der Gesellschaft einführen - und zwar ausschließlich mit Hilfe der Spracherziehung. Eigentlich hat Eliza das richtige Bauchgefühl; so ganz geheuer ist ihr der Vorschlag des Professors nicht. Etwas zögerlich gibt sie nach: „Der kann mir was lernen“, hofft Eliza.

Ja, das ist die Geschichte von My Fair Lady, aber natürlich legt Regisseur Damian Popp seiner Inszenierung nicht das verkitschte Musical, sondern Shaws klassismuskritisches Theaterstück zugrunde. Gesungen wird ab und zu trotzdem: „Ich mach‘ ‘ne Herzogin aus dieser Gassenschlampe“, schmettert Ludwig Michael als Higgins fröhlich über die Rampe - und hat das Publikum erneut in der Falle. Das freut sich über die schmissige Melodie, über die Fröhlichkeit, über den Slapstick, über das überzeichnete Kostüm des Professors mit seiner gigantisch überdimensionierten Fliege und dem schwarzen Billig-Jackett zur zebragestreiften Hose. Dabei ähnelt Higgins‘ Verhalten dem von Frankenstein, der einen künstlichen Menschen schafft: „Wir erfinden neue Elizas“, jubiliert er. Nicht erzogen, sondern zum Automaten abgerichtet wird die arme Eliza, die am Ende erkennt: Sie hat ihre Freiheit und mit ihrer Authentizität auch ihre Verankerung bei Freunden und Familie verloren, was Higgins‘ Mutter durchaus mahnend vorausgesehen hat: „Das Problem ist, was nachher kommt…“

Was nachher kommt, ist Higgins egal. Er singt das Loblied auf den Snobismus, schlägt Bedenken aus dem Feld mit einer Diagnose, an die er selbst kaum glaubt und die ebenfalls ausgesprochen klassenbewusst formuliert ist („Wir befinden uns im Zeitalter der Emporkömmlinge“) und geht das Projekt nicht aus gesellschaftspolitischem Interesse, sondern als Vergnügung eines gelangweilten Mitglieds der herrschenden Klasse an: Die Abrichtung des Blumenmädchens aus dem Prekariat geschieht aufgrund einer Wette mit Higgins‘ Freund und Trinkkumpan, dem Oberst Pickering. Verantwortung für sein neu geschaffenes Geschöpf ist Higgins fremd: Wenn Eliza den Aufstieg nicht schafft, muss es an ihrer mangelnden Anstrengungsbereitschaft liegen: „No pressure, no diamonds!“ - Den Spruch muss man sich merken… - Higgins allerdings kennt nur diamonds, no pressure: Voller Selbstmitleid klagt er über die anstrengende sechsmonatige „Arbeit“ mit Eliza und die Nachwirkungen einer alkoholfreudig genossenen Party.

Damian Popp lässt die Komödie, die doch so einen traurigen Ausgang hat, turbulent und temporeich abschnurren, mit extrovertiertem Humor, gnadenlosem Witz, großartigen Formulierungen und absurd komischen Bildideen. Im Rahmen ihrer Sprecherziehung müssen Higgins‘ Klienten zum Beispiel in ein „ABCebra“ sprechen, ein hölzernes Zebra-Steckenpferd, auf dem zu reiten einer koketten Maditha Dolle erkennbar Freude bereitet. Als „mein Pferd Lady“ stellt Higgins es vor, und geben wir es zu: An solch höherem Blödsinn mit tieferem Wortsinn muss man einfach seinen Spaß haben. Matthias Heße darf in gleich fünf Rollen seiner bekannten Freude an Verkleidung und Travestie huldigen. Wenn er als Mrs. Eynsford-Hill nebst etwas dümmlichem Sohn per Zoom am Kaffeeklatsch von Mutter Higgins (Joanne Gläsel) teilnimmt, ist das ein (leider etwas zu lang geratenes) Feuerwerk wie in der Commedia dell‘arte.

Nicht zum ersten Mal bewundern wir den Einfallsreichtum des jungen Regisseurs, auf den bald größere Bühnen warten dürften. Und doch: Vielleicht ist es ein wenig zu viel des Trashs und zu wenig der differenzierten Personenzeichnung. Die stiff underlip, die so gut zu Higgins‘ und Pickerings Snobismus passen würde, ist ebenso wenig zu spüren wie ein wirkliche Figurenentwicklung der Eliza Doolittle; Higgins‘ Haushälterin Mrs. Pearce ist bei Joanne Gläsel eine schrille Karikatur, deren gelegentliches starkes Lispeln, das vermutlich auf ihre eigene Klassenzugehörigkeit hinweisen soll, unerklärterweise nur in kurzen Schüben auftritt. Nun, das Trashige und Schrille ist gewollt: Popp transformiert Shaws Gesellschaftskritik nicht in ein kitschiges Musical, sondern in ein Unterhaltungsformat ganz anderer Art. Die zweieinviertel Stunden vergehen im Fluge; insofern gibt es keinen Grund zum Klagen. Nur die Schlussszene, in der die Figuren sich in einem Stuhlkreis gegen alle Regeln an den Hals gehen und zusammenfassen, was wir längst kapiert haben, erscheint als überflüssiger Fremdkörper. Die Runde kommt trotzdem zu einer bitteren Erkenntnis: „Der Unterschied zwischen einem Blumenmädchen und einer Dame ist nicht, auf welche Weise sie sprechen, sondern wie sie behandelt werden.“