Übrigens …

Baracke im Stadthalle Mülheim/Ruhr

Liegt die Keimzelle des Hasses in der Familie?

Es geht um Liebe im ersten der vier Akte von Rainald Goetz‘ neuem Stück Baracke. Bea schreibt eine Abschlussarbeit, deren Titel das Publikum in der Mülheimer Stadthalle zum Lachen reizt: „Verführung oder Hoffen auf Liebe im Frühwerk von Leif Randt und Éric Rohmer“. Beas Liebe gehört Ramin - einem sympathisch weichen, etwas skrupulösen, stets die eigene Beziehung reflektierenden und hinterfragenden Typen auf der Suche nach Romantik. Bea selbst sieht die Beziehung eher abgeklärt; sie steht mit beiden Beinen auf der Erde. Es überrascht, wie viele komödiantische Funken der sonst eigentlich eher verkopfte Rainald Goetz aus dieser ungleichen Liebe schlägt. Aber natürlich: Die Liebe hat so viele Spielarten! Da kann es schon mal Funken schlagen. Oder ganz andere Schläge geben: „Ich bin der Hass“, hatte der von einem Stahlhelm behütete Mann im Wehrmachtsmantel gesagt, der zuvor auf der großartigen, immer wieder Werke der Bildenden Kunst zitierenden Bühnenkonstruktion von Elisabeth Schwarz aufgetaucht war.

Als „Sohn“ wird der Mann mit Stahlhelm (die Kostümierung ist eine Idee der Inszenierung, nicht von Goetz vorgegeben) in Stücktext ausgewiesen. Die Familienverhältnisse sind vor allem im Falle von „Vater“ und „Mutter“ nicht hundertprozentig durchschaubar, aber dieser Hinweis gibt zumindest gewissen Spekulationen Nahrung. Mareike Beykirch und Jeremy Mockridge geben das junge thüringische Paar Bea und Ramin, Janek Maudrich den gemeinsamen Freund Uwe, und Natali Seelig und Andri Schenardi die ältere Generation. Die Beziehung des ungleichen Paars Bea und Ramin geht bald in die Brüche, und Bea wendet sich Uwe zu, von Maudrich als rauer, lauter und empathieloser Geselle dargestellt. Bea und Uwe aus Thüringen - da war doch mal was: Wir erinnern uns an Beate Zschäpe und die beiden Uwes (Mundlos und Böhnhardt), an den Hass, der zu den NSU-Morden führte. Zu Vater und Mutter gibt es verschiedene Erklärungsmodelle: Sind sie die Repräsentanten der älteren Generation, die die Grundlagen für den fremdenfeindlichen Hass der Terroristen gelegt haben? Sind sie die Eltern von Uwe? Oder sind sie die gealterten Bea und Uwe selbst? Man weiß es nicht so genau; man weiß nur, dass die Ehe von Bea und Uwe in Gewalt gegen die Frau mündet, in eine patriarchalische Machtausübung der schlimmsten Sorte. In der Ehe zwischen Vater und Mutter ist es nicht anders. Ein Kontinuum? Ja, so oder so.

Immer wieder blitzen an dem zweieinhalbstündigen, pausenlosen Abend des Deutschen Theaters Berlin, der jetzt bei den Mülheimer Theatertagen gastierte, Motive aus der Geschichte des mörderischen Trios vom Nationalsozialistischen Untergrund auf. Aber nicht um diese Geschichte geht es, sondern um die Herkunft und die Ursache von Gewalt. „Alle Gewalt geht von der Familie aus“, ist die - sicher durchaus anfechtbare - Kernthese des Stücks. Zweifellos kann die Familie statt des erwartbaren wärmenden Nests auch ein verdammt ungeschützter Raum sein. Für Goetz scheinen auch die terroristische, extremistische und politische Gewalt dort ihren Ursprung zu haben. Die Verbindungen zwischen diesen Spielarten zeigt Goetz in seinem collageartigen Stück auf: Gewalterfahrungen schreiben sich ein in die psychische Verfassung des Menschen, und sie setzen sich fort, oft über Generationen. In Beas und Uwes Familie raunt man von Euthanasie-Fällen und verschwiegenen Suiziden während des Hitler-Regimes. Die Gewalterfahrungen, die die Eltern im Nationalsozialismus gemacht haben, nisten sich ein und werden repetiert - in körperlicher oder sexueller Gewalt in der Familie, manchmal aber auch außerhalb. Bei den NSU-Mördern entladen sie sich in rechtsradikalen Straftaten. Für innerfamiliäre Prügeleien mag es aber auch ganz andere, banalere Ursachen geben: Eltern werden ihre helle Freude haben an Frieder Langenbergers hasserfüllten Schilderungen des „diktatorischen Terrors der Kinder“ insbesondere „zwischen zwei einhalb und vier einhalb“, der die Eltern erst überfordert, dann die Machtverhältnisse in der Familie umkehrt und zu guter Letzt entzweit. Mit einem tief empfundenen „Ich hasse dich“ endet diese Szene - und das Stück setzt sich mit der Verlesung eines REWE-Einkaufszettels fort. Der Kreislauf scheint unentrinnbar.

Der Text, dessen Überforderungen Regisseurin Claudia Bossard auf wundersame Weise entronnen ist (ihn zu bezwingen, muss sich wie Rodeo Riding anfühlen!), spielt auf der gesamten Klaviatur der sprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten. „Weißt du noch, wie Party geht“, lautet einer der ersten Sätze in Goetz‘ Drama. Jahrelang ist Rainald Goetz abgetaucht in die Rave Partys dieser Welt; erst vor einigen Jahren hat er sich wieder im Literaturbetrieb zurückgemeldet. Wie ein Rave wirkt nun seine Sprache. Sein Text ist ein Wortkonzert, eine Collage aus abgehackten Substantiven, aus lyrischen Passagen, aus hochkomplexen soziologischen Abhandlungen und Welterklärungen, banaler Unterhaltung, streitsüchtigen Dialogen und daraus resultierenden Sprachanalysen. Und er ist eine Collage aus den unterschiedlichsten Motiven von Gewalterfahrungen und dem Unterlaufen einer bürgerlichen Hochkultur. Ein Abschnitt ist der „MeToo“-Bewegung gewidmet („die schönste Diskurs-Revolution seit ’68“), im „Museum des 21. Jahrhunderts“, das Goetz für eine seiner Szenen vorsieht, tauchen Gemälde verschiedener Epochen auf, die man meist erst auf den zweiten Blick mit Gewaltausübung oder patriarchalischer Unterdrückung verbinden kann, und sogar Vater und Mutter scheinen in ihrer Kostümierung ab und zu durch die Jahrhunderte zu wandern.

Im Nachtleben trifft man auf die Nazi-Schamanin Frau von Loeven (Evamaria Salcher), die aussieht wie eine Wiedergängerin der Maggie Thatcher und deren Monolog dem Stück vielleicht seinen Titel gegeben hat. Der Familienbezug bliebt ein wenig unklar in dieser Szene: Die Schamanin verweist auf Parallelen zwischen den Revolutionen dieser Welt, den gewalttätigen wie der Russischen Revolution von 1917 und den gewaltfreien wie der der politischen Wende im Jahre 1989. Fünfzehn Jahreszahlen zählt sie auf: „15 Fluten, 15 Plagen“. Die künftige Fortsetzung der Plagen scheint gesichert. Die Schamanin orakelt: „… Der Hass, Kontinuum, Engrammschrift aeternale, in Stein gemeißelt, betoniert, … die Freuden dieser Sicht der Zukunft … in Grässlichkeit verbindlich zugeeignet…“ - Kirchenglocken läuten – auch der Klerus übt Gewalt aus: Im Museum des 21. Jahrhunderts erscheint ein altes Gemälde der Heiligen Familie.

Alle Anspielungen zu entschlüsseln, dürfte eine lohnenswerte Aufgabe für die Wissenschaft sein. Manches ist jedoch kaum verschlüsselt: Selbstzitate (immer wieder taucht Goetz‘ Romantitel aus dem Jahre 1983 „Irre“ auf), Bibelzitate (vielfach verschnitten mit Hinweisen auf Nazi-Verbrechen: „und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergebe, hätte aber der Liebe nicht…“), Songtexte und vieles andere mehr. Kapitelüberschriften entsprechen den tatsächlichen oder verfremdeten Titeln früherer Dramen des 20. Jahrhunderts („Jugend ohne Stadt“, „Shoppen und Ficken“). Auch die provokante Kernthese ist ja ein verfremdetes Zitat aus dem Grundgesetz: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es dort. Und alle Gewalt im Volke von der Familie?

Tender Is The Night“, liest man einmal, schriftlich auf die Bühne projiziert. Für Goetz herrscht in der Familie die „Diktatur der Grausamkeit“. Diese Diagnose überträgt er auf Deutschland und die Welt. „Du, ich, ihr, wir - Hölle“ lautet sein Fazit.