Ödipus: seine Tragödie umsonst
Auf dem Schutzvorhang erscheint ein riesiger Medusenkopf mit angedeuteter Schlangenfrisur und makellos schönem Antlitz einer jungen Frau, die uns mit leicht verfremdeter Stimme begrüßt und „anmerkungen seitens der tastatur“ gibt. (Ganz sicher KI.)
„Mythen sind die Datenreste auf alten Festplatten eines ehemals hochgejubelten Speichersystems… und dann ging die Festplatte kaputt… aber die Daten hängen noch auf der Festplatte und flüstern vor sich hin“. Und von diesem „ödipalen Flüstern“ am Ende des Systems der Stadt Theben schlägt Thomas Köck die Brücke zum Hier und Heute, in dem er „das Ende eines Systems das schon wieder nicht /schon wieder noch nicht akzeptieren will/ dass es schon jetzt Geschichte ist“, beklagt und in der Überschreibung der Ödipus-Tragödie des Sophokles den antiken Mythos mit unseren Weltproblemen zusammenbringt.
Nach den etwas wirren Anmerkungen der Meduse hebt sich die Wand und gibt den Blick frei auf einen feuerrot strahlenden Bühnenraum, der im hinteren Bereich in ganzer Breite ein zweietagiges Spiel-Podest aus Metallgestänge enthält. In der Mitte hängt jetzt ein riesiges weißes Flachrelief einer geflügelten Gorgone (das mit seinen gestutzten Flügelchen dem Logo der Modefirma Versace entliehen zu sein scheint). Aus den leeren Augenhöhlen der Maske strahlt es gelegentlich grell rot oder weiß, ein anderes Mal erscheint auf ihren Zügen das KI-Gesicht des Prologs, um Regieanweisungen oder Kommentare abzuliefern. Über allem erscheint in rotleuchtenden Lettern: See for Yourself. Wie der Titel des Stücks, so verweist auch dieses Motto auf die Sprach-Varianten von rhythmischer Hochsprache, D-Englisch und eingestreuter Gossensprache, die das Ensemble engagiert zum Klingen bringt (wenn auch mit ein bisschen viel Geschrei).
Wir sind im Theben der Ödipus-Herrschaft. Bei Sophokles wütet die Pest. Obwohl Thomas Köck sich nahe ans Geschehen der antiken Vorlage hält, ist es bei ihm das Laios-System, das die Menschen quält: es herrschen eine Klimakatastrophe und Verzweiflung. Eine sterbende Priesterin in schwarz-weißem Skelett-Kostüm wälzt sich auf die Bühne und bringt das Elend Thebens auf den Punkt: „in dieser scheißpest scheißzeit scheißstadt/sie wankt/sie zittert/sie zerbröckelt hier/vor unseren augen“. Kein Wasser, verdorrte Felder, versiegende Ströme, vergiftete Meere. Und dann die Frage an Theben global worldwide - nicht zuletzt ans Publikum, das immer wieder direkt angespielt wird: „Sind wir Zeugen oder Täter?“
Eine Frage, die sich im Grunde nicht wirklich stellt, denn wie das Schicksal des Protagonisten, so ist auch das Schicksal unserer Wohlstandsgesellschaft - sei es Wachstum oder Klima betreffend - längst allgemein bekannt. Köstlich ironisch dargestellt in dem Chor der Wohlstandswutschnaubenden. Drei greise Figuren in spießig-beigem Outfit stimmen immer wieder ihren selbstmitleidigen Jammerjazz an, wobei sie letztendlich - trotz besseren Wissens - nur wünschen, dass der Lifestyle der letzten siebzig Jahre - Wohlstand und Bequemlichkeit - erhalten bleibt (herrlich komisch: Teresa Annina Korfmacher, Jannik Mühlenweg, Valentin Richter).
Gegen alle Wohlstandsgläubigen und Verschwörungstheoretiker führt Köck die Figur der Pythia - die Stimme des Orakels von Delphi - als Expertin ein, die bei Sophokles nicht auftritt, hier aber eine wichtige Rolle spielt (Überzeugend: Katharina Hauter). In giftgrünem Kostüm mit Tüllschleppe vertritt sie die Vernunft, die Wahrheit und Aufklärung und führt mit dem Wissen um das Schicksal der Stadt (und der Welt) durch das Stück.
Gleich zu Beginn tritt sie oben auf dem Podest stehend - trotz Bühnennebel völlig klar - mit ihrer Forderung nach einem radikalen Systemwechsel im Dialog gegen den blinden Seher Teiresias an. Der - zwischen albern und selbstbewusst im weiß-roten Tüllröckchen kurios von Michael Stiller gegeben - ganz bewusst den Opportunisten verkörpert, der mal schweigt, mal lügt, ganz wie es den Herrschenden passt: ein Clown am Fußsockel der Macht.
Einen Mitstreiter gegen den Zyniker und das bestehende System findet die Idealistin Pythia in Kreon, einem stattlichen Mann, der sich der Probleme bewusst ist. (Von unterschiedlicher Präsenz: Sebastian Röhrle). Im Gespräch mit Ödipus kommt er zu der Erkenntnis, dass das faulende, verfluchte, stinkende Laios System an allem Schuld trägt. Das heißt: „Der Mörder Laios‘ muss gefunden werden/und aus der Stadt getrieben/um den Fluch von der Stadt abzuwenden.“
Die Mörder-Suche gestaltet sich turbulent: Der alte Orakelspruch taucht auf vom Vatermörder und Muttergatten, die Kreise ziehen sich zusammen um Ödipus, der aber wehrt sich zappelig, leicht hysterisch. Die Besetzung dieser thematischen Hauptrolle mit dem Gast der Münchener Kammerspiele Thomas Hauser, bleibt mir unverständlich. Ödipus, bei Sophokles als König und Tyrann (Oidipous Týrannos) betitelt, erscheint hier als Jüngelchen mit weißem Plisseeröckchen unter einem T-Shirt mit der eher ironischen knalltoten Aufschrift: Justice for all. Es kommt zu gegenseitigen Beschuldigungen zwischen Kreon und Ödipus. Iokaste, anfangs mit riesigen Goldplatten dekoriert (eindrucksvoll: Therese Dörr), greift ein, wirft das Gold mit wachsender Erkenntnis der Wahrheit Stück für Stück ab, bis zur Selbstaufgabe. Als wichtige Zeugin tritt in einer skurrilen Nebenrolle brillant Josephine Köhler als selbstsichere Botin der Wahrheit auf.
Zum Schluss wird es klamaukig: zum wiederholten Mal senkt sich eine breite Projektionswand von unheimlichen Teufelskrallen geführt vor die Bühne: per Live-Video nehmen wir nur indirekt am Geschehen teil, unterbrochen von vorproduzierten Bildern, die neben rasendem Verkehr, dramatischen Crash-Szenen letztendlich die Katastrophen unserer Welt einblenden. Das alles dramatisiert durch Live-Musik (Meike Boltersdorf Vokal und Synthesizer, Tim Neumaier Posaune und Synthesizer).
Nachdem der Laios-Mord aufgeklärt ist, Iokaste sich getötet und Ödipus sich die Augen ausgestochen hat und es endlich regnet, erscheinen alle noch einmal wohlbehalten auf der Bühne. Während Pythia erkennt, dass die Aufklärung nicht reicht für einen Systemwechsel, den sie weiter einfordert, stehen alle anderen sprachlos im Regen - während der Chor tönt: back to normal, back to our good old normal. Da sind wir wieder am Anfang: die Tragödie war umsonst, die Menschen haben nichts dazugelernt. Damals wie heute.