Übrigens …

Juices im Mülheimer Theatertage

Im Spargelfeld der Unterbühne

Das Stück beginnt mit einem 30fachen „A“. A sagt „A“, B sagt „A“ C sagt „A“ – zehnmal pro Schauspielerin, bevor es weitergeht - mit „Also, alsoso“. Alonso, kichert man in diesen Tagen. Aller Anfang ist schwer; das war er bei Alonso auch. Die Figuren – keine differenziert gezeichnete Persönlichkeiten, sondern Stellvertreterinnen für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe - sinnieren, dass sie ja eigentlich schon einen Anfang bekommen haben. Wenn man weiß, dass der Autorin Ewe Benbeneks Leib- und Magen-Thema die materielle und psychologische Integration der Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Deutschland ist, ahnt man, dass sie einen Anfang im neuen Land meinen. Und da ist aller Anfang nicht nur schwer, sondern angstbesetzt. Fängt auch mit „A“ an. Arbeitsmigration auch.

Was Benbenek mit vielen Alliterationen zum Klingen bringt, ist sowohl beim Lesen als auch auf der Bühne zunächst einmal recht lustig. Die Autorin hat nicht nur ein Thema, sie hat auch Humor. Wut hat sie allerdings auch, doch dazu kommen wir später. Erst einmal hängen da drei namenlose Frauen am "Czandelier" und drohen herunterzufallen. Der Chandelier, französisch ausgesprochen dem deutschen Kronleuchter onomatopoetisch und in unserer Vorstellungskraft überlegen, wird hier polnisch geschrieben und ausgesprochen. Assoziiert man deshalb eine Unterlegenheit der Hängenden? Nicht wirklich. So ist es aber wohl beabsichtigt. Französisch war mal die Sprache der Oberschicht – lang ist’s her. Swarovski Style sei der Czandelier, was auch teuer sei und auch ein Produkt für Reiche, aber für die breite Masse der Reichen. Man schmunzelt mal wieder – und schätzt die originelle Metapher, die keineswegs die einzige bleiben wird. Die Frauen hängen da jedenfalls am Swarovski-Leuchter und sind onomatopoetisch in Höchstform angesichts eines grandiosen Wortkonzerts über die Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste osteuropäischer Arbeitsmigranten. Sie sprechen nicht Französisch, sondern die sprachkunsthandwerklich veredelte Version einer niederen Arbeitersprache - oder was immer die Schauspielerinnen da sprechen tun, wiederholen tun, stottern tun, ironisieren tun. Sie tun erzählen vom kalten Angstschweiß, der den Migrantinnen angesichts ihrer finanziell und integrationspolitisch prekären Situation ausbricht. Da wird die Hand, mit der sie am Svarovski-Leuchter hängen, nass vom Stress. Purer Existenz-Stress ist das, „thunder, thunder, lightning, very, very fright’ning“. Die Träne quillt – und platsch: stürzen sie ab, die drei Migrantinnen. In ein Schaumbad. Gar so hart klingt das erstmal nicht.

Dramatisch ausgewalzt wird dieses Bild – und dramatisch überspitzt, mit einer unglaublichen Lust am skurrilen, surrealen Wortspiel. Regisseurin Kamila Polívková, ihr Ausstatter Antonin Silar und der Lichtkünstler Ronny Bergmann entwerfen dazu bisweilen großartige Bilder, wobei all die Ironie und all der Surrealismus einen ernsthaften, existenziellen Hintergrund haben. Inhaltlich und formal schließt Benbeneks Stück nämlich an ihren Bühnen-Erstling Tragödienbastardan, mit dem die Autorin im Corona-Streaming-Jahr 2021 den Mülheimer Dramatikpreis gewann und der - wie jetzt Juices - als Bewusstseinsstrom formuliert war. Beim Tragödienbastard bezog sich Benbenek immer wieder auf reale Personen: auf ihre nach Deutschland ausgewanderten polnischen Eltern sowie die in einem ganz anderen Denken verhaftete, im Heimatland verbliebene Großmutter. Diesmal ist es fast ausschließlich die eher abstrakte Bevölkerungsgruppe der osteuropäischen Arbeitsmigranten, um die es geht. Benbenek, die selbst als Kind mit ihren Eltern in die Bundesrepublik gekommen ist, hat hier als Universitätsdozentin Karriere gemacht und ist ein Musterbeispiel für eine gelungene Integration. Sie hat sich wissenschaftlich mit Arbeitsmigration befasst und verfügt über zahlreiche eigene persönliche Erfahrungen, und so wird man ihr glauben müssen, dass es in der Nachfolge-Generation der Einwanderer nach wie vor existentielle Abstiegsängste, aber auch Minderwertigkeitskomplexe gibt.

Zwar dürfte die Quote erfolgreicher und inzwischen wohlhabender Migrantinnen und Migranten bei Osteuropäern höher sein als bei den meisten Bevölkerungsgruppen mit außereuropäischem Migrationshintergrund; trotzdem sind die Risiken und Armutsfallen, die Benbenek in ihrem neuen Stück aufzeigt, nicht von der Hand zu weisen: Das duftende Schaumbad, in dem die drei Protagonistinnen bei ihrem Kronleuchter-Absturz überrascht landen, wird zum „dirty Schaumbad“, in dem Sexarbeiterinnen halbnackt ausgebeutet werden. Für andere materialisiert sich der Goldene Westen im Spargelfeld, wo „Deutschlands Gemüse-Dandy Number One“ im Zeitraffer durch die lockere Erde des unterirdischen Gewächshauses stößt. Die Köpfe der drei Schauspielerinnen stoßen alsbald hinterher, die Gesichter von Erdkrumen bedeckt, dirty und eines Schaumbades bedürftig. Ja, so geht zumindest das Klischee: Osteuropäische Arbeitsmigrantinnen und -migranten arbeiten beim Spargelstechen, in Tönnies‘ Fleischfabrik oder als Putzfrauen bei den Damen Herrenmenschen, die nach getaner Arbeit mit spitzen Fingern die Sauberkeit ihres Bungalows kontrollieren. „Here we fall again“, singen die Schauspielerinnen.

Es sind einfache, aber großartige Bilder, mit denen diese Erzählungen illustriert werden: Die drei Frauen putzen im warmen, aber düsteren Licht den nackten, geringfügig höher gelegten Bühnenboden, krauchen in der Enge eines niedrigen, schmutzigen, gefängnisartigen Unterbühnen-Kerkers, in dem der Spargel wächst, und hängen oder fliegen ab und zu prekär an einem vom Bühnenhimmel heruntergelassenen Seil. Ansonsten beruht die Wirkung der Inszenierung vor allem auf der großartigen Sprache, die von den drei Schauspielerinnen Maria Munkert, Antoinette Ullrich und Rahel Weiss virtuos performt wird. Der rhythmisch brillante, für ein unvorbereitetes Publikum zu Beginn noch rätselhafte Gedankenstrom, als der sich Benbeneks jüngstes Drama entpuppt, wird zu einem perfekt austarierten Wortkonzert.

Doch bevor sich das Publikum darin wohlig einrichten kann, wechselt plötzlich der Tonfall. Dann bricht die Wut sich Bahn – in einer großen Abrechnung mit der unmenschlichen BRD und ihrem kapitalistischen System, in kaum differenzierten und häufig auch nicht stimmigen historischen Rückblicken. Hochmut und Geschichtsvergessenheit werden der Bundesrepublik da zum Beispiel vorgeworfen: Das Land habe sich nach dem Krieg nur mit Hilfe des Marshall-Plans erholen können, aber heute habe man den Marshall-Plan vergessen und glaube, den Wohlstand ausschließlich aus eigener Kraft erreicht zu haben. Au Backe – erstens ist das zumindest für die Generation des Schreibers dieser Zeilen unzutreffend, und zweitens – was werden da für olle Kamellen hervorgeholt? Des Weiteren werden historische und politische Entscheidungen in Frage gestellt (oft auch nur aufgezählt), die, wenn man sie ernsthaft und differenziert diskutieren wollte, einen eigenen Theaterabend füllen würden.

Die Schauspielerinnen wandern nun durchs Parkett und konfrontieren ihr Publikum unmittelbarer als in dem poetischen Teil zuvor. So wecken sie es ein wenig auf aus seiner Lethargie. Ob es wirklich ungemütlich wird, sei dahingestellt – ein jeder und eine jede hat da sicher andere Schmerzgrenzen. Aber wirklich differenziert, feingeschliffen wie die virtuosen sprachlichen Miniaturen zuvor, ist dieser Teil des Textes ganz sicher nicht. Die Dringlichkeit, die der Schlussakt für die Autorin besitzt, wird spürbar; dem Kunstwerk schaden diese Schlusspassagen eher. Aber wie sagt Queen Gertrude zu Polonius: „More matter, less art!“. Dem Rat folgt die Inszenierung am Schluss. Also hält der Kritiker die Klappe.