Übrigens …

Laios im Mülheim

Die Geschichte vom leeren Kinderwagen

Ein dunkler Bühnenraum, die Rückwand grau in grau, davor bewegt sich eine Frauengestalt in schwarzer Pluderhose und weißem Oberteil hin und her. Vorne rechts der Kadaver einer Kuh, irgendwo links ein Stapel heller Steinquader. Irgendwann kommt die Gestalt ganz langsam nach vorn, wartet einen Moment, holt tief Luft und beginnt, ausdrucksstark ein Bild zu entwerfen: eine schmale, staubige Straße, weit entfernt eine Stadt, auf der Straße ein Mann auf einem Ochsenkarren. Am Himmel ein Vogel – oder nein, vielmehr eine singende, schreiende Katze mit breiten Schwingen – oder nein, eine Frau mit dem Körper einer Katze im grünschillernden Kleid, mit breiten Schwingen, sie kreist hoch am Himmel im Wind und singt, ja sie singt in dem Kopf des Mannes auf dem Karren, dem Kopf des Königs von Theben: Laios. Und diese Katze, oder Frau, oder Sphinx - wer auch immer – wird ihn eines Tages um den Verstand bringen. „Und dann läuft Jahre später eine Frau mit einem leeren Kinderwagen durch die Straße, sie ist verzweifelt, obwohl da gar kein Kind ist“. Nach dem Hinweis, dass Vater oder Mutter den Sohn töten wollten, das aber wohl nicht taten, „weil der Sohn den Vater töten wird“, kann der Antikenkenner schon das Ödipusdrama erahnen. Denn er war es, der den Vater ermordete und die Mutter ehelichte, allerdings ohne beide zu kennen, ahnungslos, da diese ihn ausgesetzt hatten, um dem Fluch oder Orakelspruch zu entgehen, dass eben dies geschehen werde.

Da die Dichter der Antike wenig über das Mordopfer, eben den König Laios, berichten, bleibt reichlich Raum, zu dem Geschehen vom leeren Kinderwagen bis zum Vatermord hypothetisch Bilder zu entwerfen. Das tut nun Roland Schimmelpfennig phantasievoll, sprachmächtig und zeitübergreifend in seinem Stück. Dabei bietet er immer wieder neue Entwürfe an, um sie gleich wieder zurückzunehmen oder zu relativieren. Er spielt so verschiedene Möglichkeiten und Motivationen durch. Das gibt dem Geschehen bei aller Dramatik eine unbestimmte Leichtigkeit.

All diese Variationen - all die denkbaren, erdachten oder tatsächlichen Ereignisse der Vergangenheit und darüber hinaus - vertraut die Regisseurin Karin Beier der grandiosen Soloperformerin Lina Beckmann an, die daraus einen enthusiastischen Theaterabend macht. Faszinierend, wie sie nicht nur berichtet, sondern in die Rollen hineinschlüpft: herzzerreißend gibt sie die verzweifelte Mutter über dem abwesenden Kind im imaginären Kinderwagen, um im nächsten Moment mit dem leicht verwirrten Laios den befremdlichen Himmel abzusuchen.

Dann: „Gedankensprung“. „Neuer Ansatz“. Und sie schlüpft aus der Rolle, steht gleichsam neben sich, mag sein als Erzählerin, vielleicht aber auch nur noch als Lina Beckmann, wendet sich ans Publikum, fragt nach, ob man versteht, was da gerade geschieht.

Denn dann kommt im Text ein Ritt durch die Antike. Sie alle werden erwähnt: Europa, Dionysos, Pentheus, Agaue, Antiope, Nykteus, schließlich Lykos, der stellvertretend für Laios über Theben herrscht. „Laios, Sohn des Labdakos, Enkel des Polydoros, Urenkel des Kadmos, der ausgesetzt wurde“, ist allerdings erst etwa ein Jahr alt. Es folgen noch mehr, auch einige Gräueltaten werden angedeutet, doch wichtig ist Kadmos, der Gründer Thebens, der die Stadt dort erbauen ließ, wo die von ihm getriebene Kuh tot niedersank: daher der Kadaver am Bühnenrand, der auch schon im ersten Teil da lag. Trotz all der genannten Figuren ist Lina Beckmann immer noch allein auf der Bühne, allerdings darf das Publikum mitmachen: wer was weiß, kann es reinrufen. Und wir werden von der Bühne herab gelobt. In der Tat ist es ein wunderbares Publikum: es wird gelacht, auch mal geklatscht oder der Atem angehalten. Alles zur rechten Zeit.

Am Ende dieses „kurzen Abrisses“ der Geschichte Thebens von Kadmos bis Laios ist Amphion, der Böse, tot. Es folgt der Einzug des Chors der Bürger von Theben. Zu verhalten eingespielter Musik stellt Beckmann fünf große Gesichtsmasken mit aufgerissenen Mündern auf und räumt die Steinquader um, wohl die Reste der hohen Stadtmauer mit den sieben Toren, die Amphion vergeblich um die Stadt hatte bauen lassen.

Sie zieht eine lange schwarze Jacke an und setzt eine Gesichtsmaske mit Schnauzbart auf und verkündet - leicht gekrümmt mit rauer Stimme - die neuen Stadtgesetzte: „Von nun an soll in dieser Stadt das Maß regieren. Maß und Ordnung, kein Blut soll mehr vergossen werden.“ Auch die Gottesverehrung wird neu geregelt, nicht mehr der Rausch, sondern „unsere tägliche Arbeit ist unser Gebet“. Das Zeitalter der Vernunft wird ausgerufen, dazu ertönt rauschender Beifall aus dem Off. Allerdings wird der Anspruch erhoben, dass auf diesem aufgeklärten Fundament „nur die Kinder des Kadmos und deren Kinder und Kindeskinder in Theben herrschen, niemand sonst.“ Da kommt Laios – inzwischen etwa zwanzig - wieder ins Spiel. Das Stück fällt zurück in den Erzählmodus: Laios wird mit Eskorte abgeholt, doch kommt er nicht allein, bei ihm ist sein jugendlicher Geliebter Chrysippos. Eine kleine Liebesszene auf dem Wagen, dann schon wieder alles in Frage gestellt: statt der Eskorte kann es ein gestohlenes Fluchtauto sein, in dem die Zwei unterwegs sind. Und der Geliebte könnte auch jünger sein, nicht siebzehn, sechzehn, fünfzehn, sondern neun oder acht. Und keine Flucht, vielmehr eine Entführung mit folgendem Suizid?

Dann wieder eine Spielszene: ein alter Mann, der Chorführer, verhaspelt sich mit seinem Text. Beckmann tritt aus der Rolle, kommentiert und fasst zusammen, worum es geht: „Es geht um die Verantwortung des Einzelnen zur Gemeinschaft.“

Der König antwortet, doch „was er nicht sagte“, erfahren wir in einer erschütternden Szene, in der das Geschehen farbig angestrahlt wird und der Protagonist die blutigen Eingeweide aus dem Kuhkadaver zu verschlingen scheint. Blutverschmiert folgt die Rettung durch Pelops, dem Vater des Chrysippos.

Dann folgt, fast nebenbei, zwischen einem Hustenanfall, die grausame Prognose einer Alten am Spielautomaten, dass das junge Königspaar kinderlos bleiben müsse. Wie es dennoch dazu kommen konnte, dass das Paar entgegen der Prophezeiung ein Kind bekam, lässt Schimmelpfennig in vier Versionen durchspielen. Melancholie liegt über diesem Teil um das verlorene Kind, das man mit durchbohrten Füßen im Wald aussetzte. Währenddessen läuft auf der Rückwand ein Video, das allerdings die Aufmerksamkeit nicht wirklich auf sich zieht. Die gilt ganz und gar der Erzählenden, die wieder einmal von der singenden Vogel-Katze- Frau im grünen Kleid am Himmel berichtet, selbst aber im blauen Glitzerkleid erscheint, während der Ochsenkarren von Laios auf einem schmalen Weg auf Ödipus zurollt - und Vater und Sohn aufeinander losgehen .

Kraftvoll, verstörend das Repertoire an Mimik, Gestik, Körpersprache dieser Schauspielerin Lina Beckmann und dazu alles umfassend die sprachliche Gestaltungskraft. Ganz große Schauspielkunst! Am Ende begeisterter Jubel und Standing Ovation.