Übrigens …

Die Nacht von Sevilla im Ruhrfestspiele Recklinghausen

Wenn er rausgeht, muss es krachen

8. Juli 1982, Estadio Ramón Sánchez Pizjuán in Sevilla. Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft zwischen Frankreich und Deutschland - die Älteren unter Ihnen werden sich erinnern. An das erste Elfmeterschießen der Fußballgeschichte? Vielleicht. An das berühmteste Foul der Fußballgeschichte? Sicher! In der 57. Minute schlägt Michel Platini einen Zauberpass auf den eingewechselten Patrick Battiston. Der deutsche Torhüter Harald „Toni“ Schumacher läuft aus dem Tor, mit vollem Tempo dem heranstürmenden Franzosen entgegen. Battiston, ein Abwehrspieler, kein filigraner Stürmer oder Mittelfeldmann, legt den Ball an Schumacher vorbei. Sekundenbruchteile später rammt Schumacher seine rechte Hüfte in den Kopf von Battiston. Und der fällt mit einer klaffenden Platzwunde, drei Zähnen weniger und einem gebrochenen Halswirbel bewusstlos zu Boden. Der Ball geht neben dem Pfosten ins Toraus.

Der niederländische Schiedsrichter Charles Corver und sein schottischer Linesman Robert Valentine haben nicht allzu viel gesehen. War es ein „normaler“ Zweikampf? Jean-Michel Larqué, Co-Kommentator des französischen Fernsehsenders Antenne 2, erklärt Schumacher zum gefährlichen Verrückten und will ihn zum Psychiater schicken. Er ist empört angesichts eines absichtsvollen Fouls, das den Franzosen das Leben hätte kosten können. Paul Breitner sagt: „Toni hat gemacht, was jeder Torwart lernt: Wenn er rausgeht, muss es krachen!“: Der deutsche Torhüter schlendert gelassen durch den Strafraum, als sei ihm die Gesundheit seines Gegenspielers gleichgültig. Feige sei er gewesen, sagt Schumacher heute; er habe sich nicht getraut, zu Battiston zu gehen, weil er weitere Eskalationen befürchtet habe. Kann man ihm Absicht unterstellen? Wohl kaum – aber sicher hatte er in einem Spiel, das sich schon zuvor durch große Härte und hohe Intensität ausgezeichnet hatte, einen extrem hohen Adrenalinspiegel. Der wird ihm noch helfen: Nach zwei gehaltenen Elfmetern im mit 5:4 gewonnenen Elfmeterschießen wird er als Held gefeiert.

Es folgt eine veritable Krise der deutsch-französischen Freundschaft; die französische Presse schreibt vom „troisième guerre franco-allemande“, titelt „Schumacher SS“. „Dieses wilde Tier, das der deutsche Fußball ist, verdiente es, im eigenen Urin ertränkt zu werden“, schreibt die „Libération“. El Correo Catalan macht es etwas humorvoller, aber nicht weniger deutlich (und hat sicher auch noch die „Schande von Gijon“ im Kopf, als Deutschland und Österreich 13 Tage zuvor in einem scheinbaren Nichtangriffspakt exakt das 1:0 zusammenkickten, das den tapferen Algeriern das Ausscheiden aus dem Turnier bescherte): „Die Deutschen sind die Könige des Betrugs. Sie verdienen nicht mehr als einen verregneten Urlaub in Oberbayern.“ Der „Kicker“ jubelt: „Donnerwetter, das sind Kerle!“; der französische Schriftsteller Pierre-Louis Basse dagegen schreibt über „holde Engel …, die gegen stiernackige Ungeheuer wie Hrubesch und Briegel kämpfen mussten“, und Francis Huster, ein französischer Schauspieler und Regisseur, der vor allem für seine Darstellung von Molière-Charakteren renommiert ist, veröffentlicht einen vor Pathos triefenden Brief an den französischen Mannschaftskapitän Michel Platini, in dem er die französischen Fußballhelden mit Cyrano, Jeanne d’Arc und Jean Moulin vergleicht und sie als Auserwählte Gottes beschreibt: „… wie seinen Sohn hat er euch kreuzigen lassen, um seine Macht besser illustrieren zu können, die Eitelkeit und den Hochmut der Sieger….“

Bundeskanzler Helmut Schmidt sieht sich genötigt, ein Telegramm an den französischen Staatspräsidenten Mitterand aufzusetzen. Dankend und etwas spröde antwortet der französische Politiker brieflich. Die beiden „haben den Ball flach gehalten“, sagt Toni Schumacher in der Diskussion im Anschluss an die Uraufführung des Dokumentartheaterstücks bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen. Die deutsch-französische Freundschaft hat das Spiel überlebt. Auch wenn Olaf Scholz und Emmanuel Macron einander persönlich wohl nicht ausstehen können, erscheint sie sogar gefestigter als vor 1982. Schumacher erhielt Morddrohungen; ihm wurde die Entführung seiner Kinder angedroht. Zeitweilig stand er unter Polizeischutz. In einer Umfrage wurde er zum unbeliebtesten Deutschen in Frankreich gewählt – auf Platz 1 vor Adolf Hitler. Und im Jahre 2021 wählten die Leserinnen und Leser der Zeitschrift France Football das Spiel zum bedeutendsten des Jahrhunderts.

Der Literaturwissenschaftler und Direktor des Deutschen Fußballmuseums, Manuel Neukirchner, zeichnet in seinem Dokumentartheaterstück das Spiel und seine Folgen in 90 Minuten nach. Dabei geht er weit über die Schilderung der Umstände des Fouls hinaus. Schon beim Einlass in das restlos ausverkaufte Große Haus der Ruhrfestspiele wird das Publikum durch den Sound eines Fußballstadions vor Beginn eines großen Spiels empfangen. Die Schilderung beginnt bereits in der Kabine vor dem Einlaufen der Mannschaften. Geschickt und spannungsreich schafft Neukirchner eine Collage aus Reportage-Fetzen des deutschen und französischen Fernsehens sowie aus (teilweise wohl hypothetischen) Gedanken und Interview-Äußerungen der beteiligten Spieler, Trainer, Mannschaftsbetreuer und -ärzte etc. „Grau ist alle Theorie, entscheidend is‘ auf‘m Platz“, hat uns der Große Adi Preißler gelehrt, und so spielt sich auch hier alles Entscheidende auf dem Platz wieder: in den Zitaten der Spieler, in den Fotos, die auf einer kleinen Leinwand eingeblendet werden. Der Schauspieler Peter Lohmeyer sitzt am Mikrofon und liest: liest Neukirchners Buch von A bis Z, ohne einen einzigen Satz auszulassen oder zu verändern. Es ist amüsant, wenn er die Dialekte der Spieler wiedergibt – Karlheinz Försters weichen Odenwälder Tonfall, Pierre Littbarskis gutmütig-freche Berliner Schnauze, Toni Schumachers bodenständigen kölschen Humor – und den hübschen französischen Tonfall bei den ins Deutsche transferierten Texten der Akteure aus unserem Nachbarland. Spieler, deren Dialekt-Färbungen Lohmeyer nicht beherrscht, lässt er hochdeutsch sprechen – eine gute, ja: perfekte Entscheidung, die Lokalkolorit in die Aussagen einbringt, ohne jemals peinlich zu werden. Die Schilderung des Matches, so spannend es auch bei sechs Toren inklusive eines Jahrhundert-Fallrückziehers von Klaus Fischer ist, gerät ein wenig lang, aber perfekt tariert Neukirchner die Gedanken der Franzosen und der Deutschen auf und neben dem Spielfeld aus, die manchmal so widersprüchlich sind wie die Reaktionen der Presse nach dem Spiel. Ja, sagt Neukirchner in der Publikumsdiskussion, sein Stück könne sicher auch in Frankreich aufgeführt werden, allerdings sei die Frage, ob sich Toni Schumacher dies antun könne. Die Emotionalität, mit der das Fußballspiel erinnert werde, sei in Frankreich nach wie vor erheblich.

Neukirchners Stück gibt auch einen Einblick hinter die Kulissen eines Fußballspiels. Manchmal gewinnt man den Eindruck, als habe der deutsche Nationaltrainer Jupp Derwall ein Coaching geradezu verweigert; Michel Hidalgo zeigt zumindest Ansätze von taktischem Umdenken während des Spiels. Michel Platini glaubt im Moment der Niederlage zu erkennen, dass er soeben am „letzten Spiel der Sorglosigkeit“ teilgenommen habe. Ab sofort werde man eine bessere taktische Vorbereitung erfahren. Er dürfte recht behalten haben. Und Schumacher berichtet von geheim gehaltenen psychologischen Sitzungen. Psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, war noch verpönt – und wurde bald zum Standard-Repertoire fast jedes Leistungssportlers.

Schumacher ist Bestandteil einer jeden Aufführung. Er liest zum Schluss sein ausführliches Resümee zum Halbfinale 1982. Er hat seinen Frieden gemacht: mit den Anfeindungen, die ihn jahrelang verfolgt haben, damit, dass er bei jeder Begegnung auf dieses Foul (das ja nie gepfiffen wurde und das er auch nicht wirklich als solches betrachtet) angesprochen wird. Er erzählt von psychologischen Trainings, in denen ihm – den Torhütern generell – der Schutzreflex abtrainiert wird, wenn Bälle – oder in diesem Fall auch Menschen – mit extremer Geschwindigkeit auf sie zugerast kommen. Er erzählt von den körperlichen Schmerzen, die ihn plagen – wie wir es von vielen, vielen ehemaligen Leistungssportlern hören können. Das Halbfinale gegen Frankreich sei das wichtigste und aufregendste Spiel seiner Karriere gewesen – „und das schönste!“, sagt er fast trotzig. Und doch glaubt man zu spüren, dass den ehemaligen Torhüter, den Helden von Sevilla, auch die tragischen Umstände dieses Spiels noch immer verfolgen.

So ist denn das literarische Remake eines Fußballspiels weit mehr als eine spannende Reportage eines Sportereignisses mit bekanntem Ausgang. Es regt zum Nachdenken an – über die eskalierende und deeskalierende Wirkung von Presse und Politik, über die physischen und psychischen Eingriffe des Leistungssports in die Persönlichkeit, in das sensible Zusammenspiel von Individuum und Team.

 

P. S.: 1986 in Mexiko standen sich Deutschland und Frankreich wieder im Halbfinale gegenüber. Der 2018 verstorbene Schriftsteller Ludwig Harig dichtete anschließend in einem seiner großartigen, spontan verfassten Fußball-Sonette:

„… / … der antike Held erliegt robustem Flegel.

Die belgische Gewalt weicht Argentiniens Posen,

nicht deutsche Kampfmoral dem Zauber der Franzosen.

Wird das das Ende sein? Der Eisenfuß? Der Schlegel?“