Das ist nicht Hollywood
Dort, wo Bürgerkrieg herrscht, wo verfeindete Parteien einander auf das Brutalste bekämpfen, wo Hungersnöte herrschen und es keine Medikamente zur Heilung von Wunden oder tödlichen Krankheiten gibt - dort ist das Land der Unmöglichkeit: So weit wie Unmöglich zu reisen, dort zu arbeiten und humanitäre Hilfe zu leisten - das sind die heldenhaften Tätigkeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter globaler Hilfsorganisationen. Auch die Sprache, die die Menschen dort sprechen, heißt Unmöglich, denn meist sind es Sprachen, die kaum jemand außer den Einheimischen beherrscht.
As Far As Impossible („Soweit wie Unmöglich“) muss man doch nicht gehen, um zu helfen?! Laufen die Menschen, die in diesen Regionen das wahrhaft Unmögliche versuchen, nämlich Leben zu retten unter nahezu aussichtslosen Umständen, die dafür permanent ihr eigenes Leben riskieren, vor irgendetwas davon? Oder sind sie selbstlose Helden, missionarische Eiferer? - Nein, sagt Isabelle Caillat, „wir machen einen Job und werden bezahlt dafür.“ Und doch gesteht sie ein, dass alle in irgendeiner Form traumatisiert sind von den Begegnungen und Erfahrungen anlässlich dieser Einsätze - und dass es vielleicht auch einige wenige gibt, die eine Art perverser Erregung empfinden angesichts der Katastrophen, an denen sie unmittelbar teilhaben.
Die Aufführung, die Tiago Rodrigues, der Intendant des Avignon-Festivals, als Deutschland-Premiere zu den Ruhrfestspielen 2024 mitgebracht hat, entstand mit Unterstützung von „Ärzte ohne Grenzen“ und dem Internationalen Roten Kreuz an der Comédie de Genève unter Beteiligung einer Vielzahl von internationalen Theatern und Produktionshäusern und auf der Basis von Interviews mit Mitarbeitern und Ärzten der Hilfsorganisationen. Isabelle Caillat und ihre Kollegen und Kolleginnen spielen Hilfskräfte, die Schauspielerinnen und Schauspielern von ihren Erfahrungen und Erlebnissen erzählen. Mehr ist nicht: Da wird nichts ausagiert, da gibt es weder Kriegsgetöse noch Elends-Porno. Und doch ist das ganz harter, schwer verdaulicher Stoff, den uns das brillante internationale Ensemble zumutet. Deshalb beginnt die Aufführung auch mit der Skepsis der Interviewten, die nicht glauben können, dass ihre Erzählungen wirklich gewünscht und im Theater umsetzbar sind. Längst haben sie sich daran gewöhnt, zu Hause in Europa das Thema ihrer Berufserfahrungen zu vermeiden: Ihre unschuldigen Gesprächspartner erwarten Abenteuergeschichten und spannende Krimis, nicht die Schilderung tragischer, auswegloser Entscheidungen: „Zu Hause fragen alle, aber sobald es komplex wird, interessiert es niemanden mehr“, sagt Adrien Barazzone resigniert. Und wenn sie weitererzählen, tritt betretenes Schweigen ein und der entspannte Abend, den man sich vorgestellt hatte, ist beendet. Hollywood-Geschichten erleben die Menschen bei ihren Hilfseinsätzen nicht. Was sie erleben, macht auch eine Reintegration der Helferinnen und Helfer im sicheren, wohlhabenden Heimatland nach mehrjährigem Auslandseinsatz schwer.
So, wie Tiago Rodrigues die Aussagen montiert hat, mag es tatsächlich gewesen sein: Mit der Zeit verlieren die Interviewten ihre Hemmungen, und die Geschichten werden immer härter, immer aufwühlender. Sie erzählen von Angst, von unfassbarem Leid, von Aufständen in Lagern, von grausamer Kriegsführung, von lebensbedrohenden Verletzungen bei vollständigem Mangel an Medikamenten, von in der Obhut der Helfer sterbenden Kindern - und von zerstörten Kindergärten, in denen es deutliche Anzeichen für pädophile Vergewaltigungen gibt. Die Ärzte finden sich vor geradezu unmenschliche Entscheidungen gestellt: Welches Kind erhält die einzige vorhandene (und nicht einmal sichere) Blutkonserve, wenn es vier Kinder sind, die ohne Transfusion nicht überleben werden? Mit mathematischer Präzision wird die Entscheidung getroffen, unter Berücksichtigung spezifisch lokaler Überlebenschancen. Selbstverständlich unterlaufen bei Einsätzen unter solchen Bedingungen Fehler: Nicht jeder schafft es, damit umzugehen.
Bisweilen gibt es kleine Hoffnungsschimmer. Es gibt schwarze Schafe unter den Hilfstruppen - aber es gibt auch Dankbarkeit unter den Menschen, die nichts mehr haben. Ihre Toten behandeln sie mit Würde - und manchmal auch die Ärztinnen und Ärzte, selbst wenn diese nicht mehr zu helfen in der Lage waren. Es gibt unvorstellbare Momente von Menschlichkeit inmitten von tödlichen Auseinandersetzungen: Die Hilfstruppen werden zu einem schwerverletzten 14jährigen gerufen, der ihnen bereits als terroristischer Kindersoldat bekannt ist. Er liegt sterbend zwischen den Fronten. Für die Zeit des Abtransports des Verletzten lassen beide Parteien die Waffen ruhen. Eine Stille kehrt ein, leiser als im Frieden - und plötzlich herrscht auch im Theater eine geradezu kontemplative Ruhe. Kaum ist der Junge im Rettungswagen verstaut, brechen sich die brutalen Kämpfe wieder Bahn. - Es gibt keinerlei Sicherheit, keinerlei Verlässlichkeit: Ein Arzt, der einen Jungen gerettet hat, landet vor einem Erschießungskommando. Da erkennt ihn der feindlich gesinnte Kommandant - er ist der Vater des Jungen. Der Arzt überlebt. Eine Kollegin wird in einem ähnlich gearteten Fall erschossen - von dem Mann, dem sie durch eine Beinamputation das Leben gerettet hat. Auch er hat sein Gegenüber erkannt.
Caillat, Barazzone, Beatriz Bras und Baptiste Coustenoble bringen all diese Geschichten mit einer ungewöhnlich hohen sprachlichen Präzision über die Rampe - mal in Englisch, mal in Französisch, mal in Portugiesisch. Das es sich um Fremdsprachen handelt, nimmt man als Zuschauer kaum wahr - und das liegt nicht nur an der perfekt austarierten deutsch-englischen Übertitelung. Im Einklang mit der geringen szenischen Aktivität der Schauspielerinnen und Schauspieler ist auch die Bühne ganz einfach und karg gehalten. Zunächst berichten die Schauspieler vor einem weißen Laken. Dieses öffnet sich nach und nach und gibt den Blick auf eine Art Zelt frei, das gleichzeitig das Feldlazarett darstellen mag oder die Berglandschaft, in der sich die verfeindeten Parteien bekämpfen und in den Hinterhalt locken. In diesem Zelt verbirgt sich einer der besten Schlagzeuger Europas: Gabriel Ferrandini begleitet den unter die Haut gehenden Text meist unauffällig mit einem perfekten Klangteppich. Wenn die Worte nicht ausreichen, um den Schrecken hörbar zu machen, schwillt der Sound an. Zum Schluss gehört Ferrandini ein furioses Solo: ein Gewitter zieht auf. Es könnte ein Gewitter aus Schüssen und Bombenhagel sein.