Geschichten gegen den Weltuntergang
Ein leicht schimmernder Fadenvorhang trennt die Vorbühne vom Bühnenraum, in dem man schemenhaft eine junge Frau regungslos vor einem Monitor liegen sieht. Ganz vorne zwei Ungetüme, es könnten Insekten-Monster sein, die später als Sitzgelegenheit dienen.
Eine kräftige Frau erscheint auf der Vorbühne, aus dem Text erfahren wir, dass sie am Feuer sitzt und als Erzählerin aus dem Archiv berichtet. Später begegnet sie uns als Agnes, der Gründerin der Zeltstadt im Tiergarten. In einem langen (sehr langen) Monolog, erfahren wir von der Gründung der Sonderwirtschaftszonen im Hamburg des 19ten Jahrhunderts. Aus dieser historischen Vorgabe entwickelte der Milliardär Nicholas Verney den größenwahnsinnigen Plan, „nichts weniger als seine eigene Nation zu gründen.“ Dem Ministerium verkaufte er das Projekt jedoch als „beispielhaft grünes Pilotprojekt“ und erhielt tatsächlich die Erlaubnis, in der Ostsee eine künstliche Insel, die „Seestatt“ auch „VENETA“ genannt, zu errichten: Was bewusst fälschlich als Utopie der Nachhaltigkeit und Selbstverwirklichung angekündigt worden war, entwickelte sich tatsächlich unter Verneys Ägide zur Enklave für die Superreichen , zum Ort der Abschottung, Kontrolle und Ausbeutung der Mitarbeiter. Dystopie statt Utopie. Als erste Staatsbürgerin dieser Antidemokratie hat Verney seine eigene Tochter eingeplant, die seit zehn Jahren in dieser Versklavung durch den Vater lebt.
Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick frei in einen von vier blauen Kugellampen matt erleuchteten Bühnenraum, der nach allen Seiten von schwarz-flirrenden Bändern begrenzt wird. Gruselige Möbelstücke, Skelette von Rieseninsekten, die an die Biomechanoide oder Aliens des Schweizer Künstlers H.R. Giger erinnern, betonen die klaustrophobische Atmosphäre des Ganzen. Wir befinden uns in der nahen Zukunft auf der „Seestatt“
Eine junge Frau in grauem Overall erhebt sich von einer der Monsterliegen zur gleichförmigen Computerstimme aus dem Off, die ihr Anweisungen gibt:“6.50 Wake up / 7:00 Hygiene / 7:20 Meditation / 8:20 Frühstück …“.
Die 17-jährige Yada, Verneys Tochter, reagiert mit knapp angedeuteten Bewegungen, gibt so einen Eindruck der Monotonie ihres Alltags. Die Abläufe wiederholen sich mehrfach und Yada erzählt zwischendurch von der Eintönigkeit und den Schwierigkeiten ihres Lebens.
Zwischendurch tauchen drei Männer auf, der alberne Psychiater, der kritische Mitbegründer Viktor und in einem kurzen Auftritt der Vater – alle nicht eben kraftvoll gespielt von Thomas Hamm - wobei vor allem die Vaterfigur so blass daherkommt, dass man ihm unmöglich den kapitalistischen Menschenschinder und libertären Lügner abnehmen kann.
Leben kommt in das Geschehen, als Rebecca (temperamentvoll: Marlina A. Mitterhofer) auftaucht, die von Yada zunächst für die Geliebte des Vaters gehalten wird, wie wir später erfahren, jedoch eine Revolutionärin ist. Sie klärt Yada auf, dass ihr Leben ein Gespinst aus Lüge und Manipulation ist. Die beiden verlieben sich, doch die Annäherung geschieht reichlich emotionslos. Puah Kriener gibt die Rolle der Yada durchweg im sachlichen Erzählton.
Yada glaubt Rebecca, flieht die Insel und damit verlassen wir die surreale Traumwelt der Sci-Fi Schauergeschichte, berühren das Coming of Age der Protagonistin und befinden uns mit ihr auf dem keineswegs untergegangenen Festland. Auch die vom Vater totgesagte Mutter lebt. Yada entdeckt sie als gefeierte Künstlerin und Guru einer Sekte, des Kunstwerks „Kollektiv“, das für viele Menschen zu einer Gegenwirklichkeit wunde. Schwer verständlich, dass die Regisseurin Theresa Thomasberger auch diese emotionsgeladene Szene der Wiederbegegnung von Mutter und Tochter nicht dramatisch ausspielen lässt.
Gemeinsam mit beiden begegnen wir schließlich einer dritten Welt, der „Zeltstadt“ der Agnes (kraftvoll: Marion Bordat) im verwilderten Tiergarten, in der Hilfesuchende Zuflucht finden. „Ein Ort, an dem aus dem Wenigen das Beste rausgeholt wird“, so die Regisseurin im Interview. Bilder dazu werden auf den Fadenvorhang aufgespielt und erhalten dadurch eine gewisse Zerbrechlichkeit.
Am Ende ein Dialog zwischen Vater und Tochter, in den alle einstimmen. Dann wieder Erzähltext. Agnes berichtet: Die Seestatt wurde geräumt. Verney bleibt verschwunden. In Moabit wird der Räumungsbescheid für die Zeltstadt unterschrieben. Yada fährt mit einem alten Golf davon.
Auf See ist die Adaption des zweiten Romans der Autorin Theresia Enzensberger, der 2022 erschien und für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert war. Die Bühnenfassung der Autorinnen Therasa Thomasberger und Sara Gabor verzichtet weitgehend auf Dialoge und Spielszenen und bietet vorwiegend Erzähltheater.