Übrigens …

Die Schutzbefohlenen – Was danach geschah (2024) im Bochum, Schauspielhaus

Die Schutzflehenden unter uns

Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als Leben nach Verlassen der heiligen Heimat. Heilige außer Dienst gestellt!“ schallt es arabisch, russisch, deutsch chorisch und solo über den Hans-Schalla-Platz vor dem Bochumer Schauspielhaus. Eine open Air Performance am sonnigen Sonntagmorgen mit freiem Eintritt. Der Platz gut gefüllt, die fünfzehn Schutzbefohlenen auf den Eingangsstufen zum Theater. Alle tragen auf den farbigen T-Shirts als Aufschrift in unterschiedlichen Sprachen und Schriften: Vivamos! Zyjemy! Wir leben!

2013 schrieb Elfriede Jelinek den Text Die Schutzbefohlenen, der vielfach gespielt wurde, auch 2016 in Bochum unter der Regie von Hermann Schmidt Rahmen. Damals waren es die Bootsunglücke vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, bei dem mehr als 500 aus Somalia und Eritrea Geflohene umkamen, die die Welt aufschreckten. Jelinek spannte den Bogen von der Antike bis in die Gegenwart und zitierte dabei Originaltext aus Aischylos‘ Die Schutzflehenden. In den folgenden Jahren ergänzte sie den Text und schaffte 2024 ein Update mit dem Zusatz Was danach geschah (2024), das Johan Simons jetzt in gestraffter Form in Bochum zur Uraufführung bringt.

Es ist der Skandal um das informelle Treffen von Ultra-Rechten – Politikern und Sympathisanten - in einem Landhotel in Potsdam, die sich zu einer Verschwörung gegen „Ausländer“ zusammenfanden, den Jelinek zum Anlass für ihren neuen Text nimmt. Der Plan: Millionen von Menschen gegen das Grundgesetz und Staatsbürgerrecht aus Deutschland zu vertreiben und in Afrika, im einem Niemandsland in Lagern anzusiedeln. „Remigration“ - ein Wort, das ein Unwort ist. CORRECTIV hatte einen Reporter eingeschleust, die Pläne wurden publik, Jelinek zitiert wörtlich aus den veröffentlichen Texten.

Fordernd, anklagend, nicht flehend erheben die Fünfzehn mit unterschiedlicher Nationalität vor dem Publikum, gleichsam vor der Bochumer Stadtgesellschaft, ihre Stimmen. Vier von Ihnen gehören zum Bochumer Ensemble, sieben zur Theatergruppe „We Are Here“ von Yazan Abo Hassoun, vier sind Theater-Laien, Betroffene mit migrantischer Geschichte. Vielsprachig – arabisch, deutsch, griechisch, persisch, polnisch, russisch - hören wir von ihren Problemen und immer wieder von den menschenverachtenden Plänen der Potsdamer Klicke, die entschlossen ist, durch eine veränderte Rechtslage ihre geplanten Menschenrechtsverletzungen zu legalisieren. Das alles mal chorisch, mal solo, mal als szenische Lesung vorgebracht, oft lautstark ins Publikum geschleudert. Es gibt keine Dolmetscher, keine Übertitel, aber vieles wiederholt sich in den unterschiedlichen Sprachen, einiges wird allerdings in kleinen oder großen Gruppen polyphon gesprochen, was eine ganz ungewöhnliche Dynamik entwickelt. Man versteht nichts, vermutet jedoch, dass die Jelinek-Texte irgendwann auch auf Deutsch gesprochen oder als Klangteppich wiederholt werden.

Meist sitzen sie alle hinter ihren Mikrofonen in einer Reihe, wechseln aber auch mal die Plätze oder bewegen sich im Eingangsbereich zu eingespielter Musik. Die Jelinekschen Wort- und Sprachspiele gibt’s relativ selten in dem kunstvollen, engagierten Text, doch sie dürfen nicht ganz fehlen. So spielt der Text mit egal und legal, mit der Heimzahlung ohne Heim und in einem Fall mit dem tiefen Fall. Der Wechsel zwischen Hochsprache und Umgangssprache ergibt sich leicht aus den verschiedenen Typen, da spricht jemand von Hauspatschen und ein anderer unterstellt, dass uns alles wurst sei oder behauptet: „Der Staat schlägt über uns sein Wasser ab.“

Die eingespielten Songs, die als Playback mitgesungen werden, sind so international wie das Ensemble. Da hören wir Kurt Weills im französischen Exil geschriebenes Stück Youkali von Ute Lemper gesungen; Pack the Bags des syrischen Komponisten Iyad Rimavi; die Lyrics des ukrainischen Singer-Songwriters Max Barskih und zum Schluss der Aufführung den persischen Song Khooneye Ma der Sängerin Marjan Farsad aus Teheran, der melancholisch endet mit der Klage „Unser Haus ist weit weg. Hinter dem Zypressenwald. Es ist in einem Traum. In einem Traum“.

Nach fünfzig Minuten höchst engagierter Darbietung, bei der jeder der fünfzehn Schutzbefohlenen Jelineks Anklage zu seiner ganz eigenen, privaten zu machen scheint, gibt es begeisterten Applaus auf dem offenen Platz.