Übrigens …

Der nackte Wahnsinn im Theater Duisburg

Eine Generalprobe als Premiere und einiges mehr

Von hinten war es lustiger als von vorne“, konstatierte Michael Frayn, nachdem er eines seiner Stücke von der Seitenbühne aus gesehen hatte. Dem Eindruck schließe ich mich an, nachdem ich das Stück Der nackte Wahnsinn gesehen habe, das Frayn - durch sein Erlebnis inspiriert - 1977 schrieb. Es ist der zweite Akt des Stückes, in dem er uns das Geschehen hinter der Bühne, also „von hinten“ präsentiert.

Während der erste Akt in der Inszenierung von Anne Lenk bis ins Abstruse ausgereizt wird und der dritte Akt fast im Klamauk erstickt, erleben wir in besagtem mittleren Akt eine Farce, die sowohl zum Lachen wie zur verständnisvollen Teilnahme an persönlichen Befindlichkeiten anregt - und das mit einem unglaublich intelligent gebautem Doppelspiel, das die Leute im Saal einen Blick aufs Backstage-Geschehen werfen lässt.

Es handelt sich um ein Stück im Stück, um Theater ums Theater. In der Titel-Komödie Der nackte Wahnsinn geht es um den Versuch, die Generalprobe und zwei Aufführungen des Stücks Wenn das Finanzamt zweimal klingelt zu bewerkstelligen. Bei Frayn lautet der Titel des Stücks im Stück allerdings: schlicht „Nackte Tatsachen“. Das Finanzamt hat die Hannoversche Inszenierung reingebracht, wie auch die Verlagerung des Geschehens von England nach Skandinavien und die Verwandlung der Jugendstilvilla aus dem 16. Jahrhundert mit altenglischer Atmosphäre in eine Ikea-Bretterfassade mit elf klapprigen Türen, die nicht immer so funktionieren, wie sie sollen. Das Finanzamt ergibt sich thematisch dabei aus der Tatsache, dass die Besitzer des Anwesens im Ausland - sei es in Spanien, in Sardinien oder Panama, da wechseln die Angaben - jedenfalls als Steuerflüchtlinge das Weite gesucht haben.

Das Haus sollte also leer stehen, füllt sich aber rasant mit höchst skurrilen Figuren. Das alte Schnur-Telefon - gelb wie die Bretter-Hauskulisse - klingelt und zeternd erscheint die Haushälterin in absurdem Blümchen-Outfit und über hoher Plastik-Stirn aufgetürmter Lockenperücke. Sie will heimlich eine Fernsehserie schauen und dazu Sardinen essen, die sie auf einem Teller angerichtet hat, ein kurioses Requisit, das im gesamten Stück herumgeistern wird (zankend wie jammernd herrlich gegeben von Miriam Maertens). Wenig später stiehlt sich der aufgekratzte Häusermakler mit seinem dümmlichen Liebchen zu einem Schäferstündchen ins vermeintlich leerstehende Haus (ziemlich überspannt Philippe Goos und Viktoria Miknevich). Schließlich schleicht sich auch noch das Besitzer-Ehepaar Malm (turbulent Florence Adjidome und Nils Rovira-Munoz) heimlich ins Haus. All diese Figuren erscheinen als Karikaturen in bizarr bunten Kostümen mit aufgesetzter Stirn und Perücke. Keiner weiß vom anderen, nur die Haushälterin kommt allen auf die Spur.

Man trifft sich zur Haupt- oder Generalprobe, der junge Regisseur (Nikolai Gemel im ganz zivilen Alltagsaufzug) brüllt seine Anweisungen von hinten auf der Galerie durch den Saal, wird aber von seiner quirligen Regieassistentin getoppt, die als einzige in dem Chaos, in dem nichts funktioniert, einigermaßen die Übersicht behält. Sie weiß auch zu beruhigen, wenn einer der Spieler mitten im Tohuwabohu die Sinnkrise kriegt. Weil nicht nur im Text und Spiel wenige Stunden vor der Premiere alles klemmt, sondern auch in der Kulisse, braucht’s noch den Inspizienten, der abfallende Klinken und sperrige Türen richten muss. Das alles macht Hajo Tuschy souverän im Arbeitsanzug, springt später auch mal ein, wenn ein Schauspieler fehlt und bekommt vor dem dritten Akt sogar noch einen Solo-Auftritt mit Seitenhieben aufs Tagesgeschehen (speziell den Finanzminister) und endet mit der Aufforderung ans Publikum, die Handy-Lampen anzumachen, was prompt geschieht.

Doch zurück zum Schluss des ersten Aktes, ganz gleich welches Stück wir meinen: „Der nackte Wahnsinn“ oder „Wenn das Finanzamt zweimal klingelt“: geschehen ist nichts außer Türenknallen, rasanten Auf- und Abgängen, brillant choreographierten nahezu akrobatischen Einlagen und der reichlich spät gestellten, unbeantworteten Frage, was das Ganze überhaupt soll. In der Tat: das Ganze hätte man kürzen können.

Auf der Bühne hilft man sich über das Scheitern hinweg mit dem Trost: „Wir bleiben cool: wir betrachten einfach die Premiere als Generalprobe.“

Der zweite Akt des Rahmenstücks entschädigt vollkommen für den (leichten) Frust des ersten. Genial die Idee des Autors, das Spiel „von hinten“ zu zeigen, in Wirklichkeit aber ist es mehr, nämlich ein Doppelspiel. Die gesamte Kulisse wird um 180 Grad gedreht. Auf der „Bühne“ hinter der Wand läuft die Aufführung, wir hören den Text, den wir schon kennen, denn gespielt wird wiederum der erste Akt der Finanzamt-Komödie, wir sehen aber nichts von dem Spiel: wir sind backstage!

Wir begegnen den Figuren (scheinbar) privat, in ihren Liebeswirren, Eifersüchteleien, Krisen, Bedürftigkeiten, sei es Trunksucht oder Einsamkeit. Vieles spielt sich wortlos in kleinen Slapstick- oder Pantomimeszenen ab. Oder nur angedeutet, wie das Verhältnis des Regisseurs mit seiner Assistentin, die jetzt hochschwanger ist . Da gibt es im ersten Akt einen Moment, wo sie ihm ganz unvermittelt wortlos ein Bild hinhält, das selbst auf die Entfernung eine Ultraschallaufnahme sein kann. Das alles wird kunstvoll verschachtelt mit den Texten von jenseits der Kulissenwand und den immer wieder fälligen Verschwinden zu den Auftritten der einzelnen Personen. Brillant arrangiert und komponiert.

Im dritten Akt sehen wir noch einmal den ersten Akt des Finanzamt-Stücks - jetzt wieder „von vorne“, allerdings in völlig desolatem Zustand am Ende einer Vorstellungstournee. Die Perücken zerzaust, der Text verstümmelt, einige Figuren betrunken, das Personal um drei Einbrecher in gelben, dick aufgeplusterten Overalls erweitert, das Ganze zur Groteske überspielt. Es wird gebrüllt, geheult, gezankt, sinnlos gezappelt und mit halsbrecherischen Treppenstürzen und anderen Clownerien vom Thema abgelenkt. Dabei vollbringen Philippe Goos und Nils Rovira-Munoz körperliche Höchstleistungen.

Eine wahnsinnsschauspielerische Leistung: aber man muss sie mögen, diese Theater-Meta-Boulevardeske. Das Duisburger Publikum war begeistert, es applaudierte mit Jubel, Standing Ovation und Pfeifkonzert.