Faule Früchte, übler Baum
Holzlatten sind es vor allem, die von Andreas Kriegenburgs Bühnenbild in Erinnerung bleiben – Holzlatten und ein Krankenbett. Die variabel verschiebbaren Bretter weisen auf der einen Seite einen hellen Farbton zwischen gelb und grün, auf der anderen den schmutzigen, rohen Holzton eines lange nicht gestrichenen Lattenzauns auf. Manchmal teilen sie einfach nur die Bühne im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses. Aber sie können auch spaltbreite Blicke aus der Gegenwart in die Vergangenheit oder aus der Geisterwelt in die Realität zulassen. Sie können ein monotones, farbiges Heute darstellen oder eine frühere Gefängniszelle - und natürlich Omas Krankenhaus-Zimmer. In diesen Welten nämlich spielt das Ende 2014 uraufgeführte Stück, das zu Ewald Palmetshofers stärksten Texten zählt und bereits in Robert Borgmanns Erst-Inszenierung am Wiener Akademietheater überzeugte. Lange Zeit über allerdings weiß der Zuschauer nicht ansatzweise, was Sache ist. Palmetshofer erzählt zwar eine monströse Geschichte. Zunächst aber versteckt er sie hinter Rätseln.
Die Story beruht auf einem realen Vorfall: In den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 denunzierte die Tochter eines Posthalters im oberösterreichischen Mühlviertel einen Soldaten, der sich mit dem Gedanken an Desertation trug. Der Soldat wurde standrechtlich erschossen, die Denunziantin nach Kriegsende im Rahmen der Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen zu einer zwölfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Um diesen Plot herum bastelt Palmetshofer sein virtuoses Stück, das vor allem die zerstörerischen Auswirkungen von Schuld und Verdrängung aufzeigt, die drei Frauen-Generationen einer Familie vereinsamen und vereisen lassen. Nur beiläufig und bei genauem Zuhören erfahren wir ihre Namen: Ulrike, Ingrid und Maria. Bei Palmetshofer heißen sie „die Junge“, „die Mittlere“ und „die Alte“, sind 30, 50 und 90 Jahre alt. Auch die Altersunterschiede sind nicht ohne Bedeutung – als Oma im besten Alter war, um zu gebären, saß sie im Knast. Dieser Umstand – und erst recht der Grund dafür – wurde in der Familie stets verschwiegen. „Mutter hat es schwer gehabt“, ist die einzige Aussage, die Ulrikes Vater zu entlocken war.
Ulrike liebt ihre Großmutter. Zumindest möchte sie sie lieben. Aber sie spürt, dass da etwas Unausgesprochenes auf der Familie lastet – und sie geht psychisch zugrunde an Zweifeln und Verzweiflung. Sie flüchtet sich in eine nicht enden wollende Serie von One-Night-Stands, sammelt die Penis-Fotos ihrer zahlreichen Lover und ist vollkommen bindungsunfähig. Pauline Kästner läuft in dieser Rolle zu großer Form auf. - Ingrid, die „Mittlere“, weiß selbstverständlich von den Verfehlungen der Großmutter. Claudia Hübbecker hat die schwierigste Rolle im siebenköpfigen Düsseldorfer Frauen-Ensemble, denn sie verkörpert das Schweigen: Mit ihrer Tochter spricht sie nicht über die Vergangenheit; stattdessen aber muss sie die boshafte, inzwischen kranke und der Demenz entgegendämmernde Alte, die Schande über die Familie gebracht hat, irgendwie über die Runden bringen. Emotional verkarstet, erstickt Ingrid fast an ihrem Hass. Rachegelüste, Zorn, aber auch ein gewisser Selbsthass entladen sich in einem furiosen Elektra-Monolog, der an Raserei grenzt. Es ist, als würde Hübbecker noch einmal Atem holen, bevor sie sich niederkniet und mit unbändiger Kraft diesen wuchtigen Monolog gen Publikum schleudert, der die Aufführung zu einem grausigen Höhepunkt des Schreckens führt: „Ich bin Elektra / … / der Brand / das Feuer / der Ofen bin ich / … / durch sie / … / verbrenne ich meine Herkunft / meine Abkunft / / meine Abstammung / … / ich faule Frucht Frucht des üblen Baums / … / des Gewächses der Fäulnis das Mutter heißt…“.
Wiewohl über lange Phasen im Krankenbett liegend, verkörpert Traute Hoess die Fäulnis, die Mutter heißt, auf quicklebendige Weise. Die verstockte, störrische Alte verfügt noch über jede Menge Zynismus und menschenverachtenden Humor. Kriegsversehrte beschimpft sie als Krüppel, unbarmherzig keilt sie aus gegen andere Kranke, und niemals würde ihr ein Schuldeingeständnis über die Lippen kommen. Dennoch lässt Hoess anders als Elisabeth Orth dereinst in der Wiener Uraufführung ein paar winzige Risse in ihrem Panzer erkennen. In seltenen Momenten – wenn sie allein ist oder sich von ihrer Enkelin verabschiedet - glaubt man zu spüren, dass auch sie von den Gespenstern der Vergangenheit verfolgt wird, ja, dass sie vielleicht gar gelegentlich an Halluzinationen leidet, in der ihr ihre schuldbeladene Vergangenheit erscheint. Für ihre Enkelin hat sie ein Heft mit ihren Aufzeichnungen und Erinnerungen versteckt. Losgelassen hat sie die schuldhafte Episode in ihrem Leben offensichtlich nicht. Ob sie nach wie vor eine überzeugte Nazisse ist? Vieles spricht dafür, doch gibt es keine sicheren Anzeichen. Reue vermag sie nicht zu zeigen; sie verschließt sich vor jeder öffentlichen Selbstkritik. Bei Falk Richters The Silence von der Berliner Schaubühne, das vor wenigen Wochen in Mülheim und Recklinghausen gastierte, haben wir viel über Schweigen als Traumafolgestörung gelernt – und über die mögliche zerstörerische Wirkung eines solchen Schweigens in der Familie. Erlösung gibt es nicht im Schweigen. Sie wäre nur möglich durch Gespräch.
Dass Traumata sich über mehrere Generationen in der Psyche des Menschen einnisten und fortwirken, hat die Wissenschaft ebenfalls bewiesen. Dieses Kontinuum führt Palmetshofer vor – als Ergebnis, nicht als zwangsläufige, logisch aufeinander aufbauende Folge. Insofern funktioniert der Generationen-Fluch bei Palmetshofer anders als bei der Orestie des Aischylos, auf die Ingrids Elektra-Monolog rekurriert. Aber der Autor greift auch in anderer Hinsicht auf Motive und Techniken des griechischen Dramas zurück. Wie ein griechischer Chor agieren vier (Kranken-)Schwestern als Gespenster der Vergangenheit. Sie sind die Erinnyen, die die Familie verfolgen, aber auch die (unscharfen) Erinnerungen der mittlerweile steinalten Täterin. Dieser Chor der „Hundsmäuligen“ – Anya Fischer, Friederike Ott, Janina Sachau und Fnot Taddese brillieren jede für sich ebenso wie als Kollektiv – tritt nicht nur klassisch griechisch als kommentierendes Volk oder sachliche Berichterstatterinnen auf, sondern er wechselt blitzschnell die Rolle von eher fürsorglichen Krankenschwestern zu strengen Gefängniswärterinnen, wobei die Strenge nicht nur die alte Täterin, sondern auch die junge Enkelin treffen kann. Mit ihrer großen, gefühlt permanenten Bühnenpräsenz erinnern die vier Damen an Macbeth-Hexen in jüngeren Shakespeare-Inszenierungen, in denen sie ihre besessenen Opfer unaufhörlich bespuken und bis zum bitteren Ende nicht mehr loslassen.
Zahlreiche Kritiker nicht nur dieser, sondern auch anderer Inszenierungen von Palmetshofers Stück bekritteln die etwa eine Stunde andauernde Rätselhaftigkeit des Textes, während derer sich beim besten Willen keine Zusammenhänge erschließen lassen. Die Kolleginnen und Kollegen sind wohl der Ungeduld anheimgefallen, die unsere schnelllebige Zeit bei den meisten Menschen hervorgerufen hat. In dieser ersten Stunde werden Erinnerungsfetzen, Rückblenden aus unzähligen Perspektiven, Kommentare der Schwestern, das beredte Schweigen der Alten, die Fragen der Jungen und biographische Schnipsel der Protagonistinnen kunstvoll ineinander verschachtelt. Sie rufen auch beim Publikum Fragen hervor – zugegebenermaßen auch schon mal die Frage an das eigene Zuschauer-Ich, ob man irgendetwas Wichtiges verschlafen hat. In Düsseldorf helfen die musikalische, konzertante Struktur der Sprache und das höllische Tempo, mit dem das furiose Ensemble diese zu Gehör bringt, über die Fragezeichen hinweg, die sich in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer bilden. Wenn es überhaupt etwas zu bemängeln gibt, dann ist es wohl dieses Tempo, das die Wahrnehmung der dunklen, jambengeschwängerten Poesie von Palmetshofers Kunstsprache beeinträchtigt.
Zum Schluss zieht sich die Schlinge zu, ohne dass die Rätsel des Plots jemals vollständig gelöst werden. Man spürt die Wut und die Ängste der Protagonistinnen und erlebt noch einmal einen tragischen Höhepunkt in dieser Geschichte einer Zerrüttung. Wer von den Glorreichen Sieben auf der Bühne jetzt noch nicht mitgerissen wird, dem ist nicht zu helfen.