Lenz geht ins Gebirge – Leonce und Lena suchen sich nicht, finden einander aber doch
Da ist dieser kongeniale Trichter, der vom Hintergrund der Bühne sich zum Vordergrund neigt. Der wirkt wie ein inverser Berggipfel. Und mit ihm bereitet Bettina Pommer den Figuren deutlich Probleme. Sie rutschen herunter, versuchen sich zu halten, sind um Standfestigkeit bemüht. Manchmal gelingt es ihnen, sich zu halten, manchmal werden sie Opfer der Gravitation. Es ist eine Freude zu sehen, wie Seelenzustände auch ganz handfest versinnbildlicht werden können.
Elsa-Sophie Jach verschränkt in ihrer Produktion Georg Büchners Lenz mit dessen Komödie Leonce und Lena. Denn sie entdeckt gemeinsame Themen in den Werken: eine sinnsuchende Reise, Langeweile und Melancholie. Und ihr Konzept geht voll auf. In waidmännischem Grün gekleidet verkörpert das Ensemble den Schriftsteller Lenz. Vielstimmig taucht Lenz ein in die Natur, wird enttäuscht von Gesprächen mit Pfarrer Oberlin und verfällt immer mehr in grässliche Alpträume, von denen er sich immer weniger zu lösen weiß. Dann mischen sich herein Szenen aus Leonce und Lena, die beide vor einer Zwangsheirat fliehen und sich dann doch ineinander verlieben. Zuerst scheint es, als liefen beide Texte nebeneinander her, dann verzahnen sie sich immer intensiver, greifen förmlich ineinander und scheinen sich schließlich zu überlagern. Das setzen Regisseurin und Ensemble in einer Gesamtleistung um mit einem fast beängstigendem Perfektionismus. Gleichzeitig wird auch das Bühnenbild behutsam, aber deutlich destruiert, in seine Einzelteile zerlegt. Fragmentation von Bühne und Text geraten zu einem großen Ganzen, das Schauer über den Rücken jagt. Wenig tröstlich gerät auch der Schluss. Leonce und Lena heiraten verkleidet als Automaten - vom Regieteam als herrliche Ballon-Lampen der 1970er Jahre gestaltet. War es Verkleidung oder sind beide schon entmenschlicht? Für Letzteres spräche, dass Aline Serrano als tanzender Autor Büchner die Akteur:innen leblos auf die Bühne trägt und sie dort verteilt.
Glänzend zeigt sich das Ensemble. Unheimlich mit beschatteter Seele als Lenz nehmen sich alle zurück, zeigen in Leonce und Lena dann Individualität: Katharina Brenner als in seiner Macht eingesperrter König Peter - in einem wunderbaren Hermelinmantel, der sie wahlweise als Pinguin oder in einer Zwangsjacke zeigt. Julius Janosch Schulte ist Leonce, der trotz ihn ständig umwehende „Ennui“ fähig ist zu wahren Gefühlen, während die Lena Clara Kronecks sich stets mit weit geöffneten Augen in einer Traumwelt voller Überraschungen zu befinden scheint. Nadine Quittner als Valerio meistert leichtfüßig die Tücken des Bühnenbilds und weiß sich mit kecken Sprüchen immer ins rechte Licht zu setzen.
Das Publikum erlebt ein in sich völlig geschlossenes Regiekonzept, das bis zum Ende ohne Bruch durchgehalten wird. Deshalb ist reichlicher Beifall der gerechte Lohn. Ein paar Fragen bleiben dennoch offen. Reichen gemeinsame Themen aus, um um Werke mit leichter Hand einen wirkmächtigen Kokon zu spinnen? Denn die Antwort auf eine Frage bleiben Jach und ihr Team schuldig: Worin bestehen neue Erkenntnisse aus dieser Zusammenstellung? Warum ist sie so zwingend? Wie dem auch sei - ein sehr lohnender Theaterabend wurde da in Münster aus der Taufe gehoben und offene Fragen sind schließlich dazu da, dass man ihnen nachgeht.