Übrigens …

La Codista im Recklinghausen Ruhrfestspiele

Der Witz der Schlangenfrau

Ich habe in meinem Leben aufgehört zu rennen“, wird Marleen Scholten im Laufe der Aufführung sagen. Ja, Scholten rennt nicht während der 90minütigen Aufführung, Scholten steht. In einem langen Mantel, in der Hand eine altmodische Aktentasche, betritt sie zu Beginn die kleine Spielfläche in der anheimelnd renovierten Halle König Ludwig 1 / 2 - und spricht ihren Text im Stehen, eine ganze Stunde lang. Optisch ist sie die Verkörperung der Durchschnittsperson, unauffällig bis zum Verschwinden. Ihr Witz wird gegen diese Interpretation sprechen. Die Figur, die die Schauspielerin auf der Bühne verkörpert, auch: Sie hatte immerhin eine höchst originelle Idee zum Geldverdienen: Stillstand. Marleen Scholten erzählt vom Warten. Und je mehr sie erzählt, desto mehr wird ihre Erzählung zu einer kleinen philosophischen Abhandlung.

Entstanden ist das Stück der in Mailand lebenden niederländischen Schauspielerin auf der Basis einer Zeitungsmeldung. Berichtet wurde von dem arbeitslosen Kommunikationswissenschaftler Giovanni Cafaro, der beschlossen hatte, anstelle seines Nichtstuns das erzwungene Nichtstun anderer Menschen zu übernehmen - das Nichtstun von Menschen, die Besseres zu tun haben und Cafaro für das Nichtstun bezahlen. Cafaro steht Schlange. An der Post, auf dem Amt, an der Opernkasse, vor dem Apple Shop bei Erscheinen eines neuen iPhones. Scholten verkörpert nicht nur Cafaro, sondern sie reflektiert die Tätigkeit des Wartens und entwickelt mit viel Humor, aber auch unterschwelliger Melancholie einen immer komplexeren Gedankenstrom. Sie ist - ja, was ist sie eigentlich? Schlangenfrau? Wartefrau? - „Codista“ nennt sie sich - „fare la coda“ ist der italienische Ausdruck für „sich anstellen“, sich in die Schlange einreihen“. „Für eine Codista ist die Welt anders herum“, sagt Scholten. „Ich will nicht die erste sein, ich bin lieber die Letzte.“ Zeit ist Geld, wer warten muss, verliert Geld. Die Figur von Scholten nicht: Sie wird für die Wartezeit bezahlt.

Ihre Erzählung beginnt mit eher banalen Überlegungen. Sie karikiert nölende Wartende und stellt ihnen die Unkompliziertheit des Nichtstuns entgegen: Was benötigt man fürs Warten? Desinfektionsmittel für die Hände (das Stück wurde während der Corona-Pandemie entwickelt!) und Geduld. Merkwürdige Situationen werden humorvoll beschrieben - die Absurdität des Wartens gebiert so manche Absurdität menschlichen Verhaltens. Scholten spricht langsam - doch das scheint nichts damit zu tun zu haben, dass die Niederländerin sich in einer Fremdsprache ausdrückt: Die Langsamkeit passt zum Warten. Scholten kann auch schneller, wie sich in einer kurzen, eher wütenden Szene zeigen wird. Bedenken wir: Cafaro war arbeitslos, als er auf den Gedanken des bezahlten Wartens kam, und die Erfahrungen der (virtuellen) langen Schlangen von Arbeitssuchenden, die mit unehrlichen Absage-Formulierungen abgespeist werden, können einen schon mal aus der Ruhe bringen. Arbeit, weiß die Codista, ist eine Frage von Würde, und die nichtssagenden, erkennbar unzutreffenden Standardabsagen auf Bewerbungen bringen sie auch einmal zum Weinen. Ob sie dann noch an ihre zuvor behauptete Erkenntnis glaubt? „Kein Glück haben ist nicht immer negativ. Man kann es auch einfach akzeptieren“, hatte die Codista noch kurz zuvor beschwichtigt.

Warten kann süßer Müßiggang sein. Und beim Warten lassen sich Gedichte auswendig lernen. Scholten zitiert Rilkes Requiem Requiem („Wer spricht vom Siegen, Überstehn ist alles“), John Donnes Meditation XVII („Frag nicht, für wen die Totenglocke läutet“) oder den niederländischen Lyriker Jan Jacob Slauerhoff, und wenn sie nicht mehr wartet, zitiert sie WhatsApp: „XY hat die Gruppe verlassen.“ - Requiem? Totenglocke? Der unglückliche Slauerhoff? So leichtfüßig Marleen Scholtens Performance daherkommt, so düster sind diese Texte. Es ist wohl diese Doppelbödigkeit der Codista, die dazu führte, dass Scholtens sehenswerter, durch halb Europa reisender Monolog zum Niederländischen Theaterfestival 2022 eingeladen und in Italien mit dem nationalen Dramatikerpreis Antonio Conti ausgezeichnet wurde.