Peru-Perücken von asiatischen Jungfrauen
In dem White Cube, den Bühnenbildner Rocio Hernández Marchant auf die Bühne der Bochumer Kammerspiele gestellt hat, wächst ein Haar-Baum: Aus einem kurzen Stamm streben Seile wie dicke geflochtene Haarsträhnen gen Bühnenhimmel. Haarbäume sind offenbar Flachwurzler: Über den Bühnenboden laufen weitere Haarstränge wie Wurzeln von Eschen, Birken oder Weiden über den Waldboden. In einer der vielen hübschen Szenen der Bochumer Uraufführung des jüngsten Werks der chilenischen Autorin und Regisseurin Manuela Infante greifen einige Schauspielerinnen und Schauspieler nach diesen Wurzen und spielen auf ihren Enden Panflöte. Spinnen wir die Geschichte doch einfach ein bisschen weiter: Vielleicht ist der Baum ja schon alt. Datieren wir ihn ins 17. Jahrhundert. Da regierte der Sonnenkönig Ludwig XIV. Der hatte auch immer die Haare schön, wenn er in der Öffentlichkeit auftrat: Wussten Sie, dass auf Louis Quatorze die Mode der Allongeperücken zurückgeht? Ohne wär‘ blöd gewesen: Der König litt an zahlreichen Krankheiten, die unter anderem auch seinen Haarwuchs und seine Kopfhaut beeinträchtigten.
Der Haarwuchs der Königinmutter ist ebenfalls beeinträchtigt. Nicht der von Anna von Österreich, der echten Queen Mum, sondern der der Schauspielerin, die seit 15 Jahren die Mutter von Ludwig XIV. verkörpert, inzwischen 62 Jahre alt ist und seit neuestem an Haarausfall leidet. Das verursacht schlechte Laune; sie wird immer ruppiger – und so wird sie im Theater abserviert, was der Psyche auch nicht gerade zuträglich ist. So beginnt sie ihre Haare zu essen oder sie sich auszureißen, und die Reinigungskräfte, die sie im Müll finden, halten sie zunächst für tote Ratten. Igitt? Quatsch, die Aufführung ist überhaupt nicht igitt; sie ist sogar lustig, versponnen und poetisch. Aber auch (auf ganz unaufdringliche Weise) politisch. Eines von vielen ernsten Themen, die sich in der oft surreal anmutenden Inszenierung verstecken, deutet sich hier schon an: die Diskriminierung von älteren Frauen im Theater. Um die haarige Angriffsfläche zu beseitigen und die eigene Psyche zu beruhigen, muss also her, was schon bei Ludwig XIV. hermusste: eine Qualitätsperücke. 100 % peruanisch-amazonisches Haar muss es sein, denn das ist das beste und widerstandsfähigste Echthaar, das auf dem Weltmarkt zu kriegen ist. Es ist fast so dick wie die Zweige von Herrn Marchants Haar-Baum und wird garantiert pünktlich geliefert - von Amazon. Ob es auch garantiert vom Amazonas stammt, lassen wir mal dahingestellt – das kann ja eh kein Mensch nachprüfen.
Oder doch? Was Haare nicht alles für Geschichten erzählen! Auch die bisherige Perücke könnte ja am Haarausfall Schuld tragen, und so will die Schauspielerin alles wissen, was mit ihrem neuen Kopfschmuck zu tun hat. Sie lässt also eine DNA-Analyse machen und staunt über die Spuren von 159 Menschen, die es sich künftig auf ihrem längst gekündigtem Mutter-Ludwig-Kopf gemütlich machen. Die Aufführung behält zwar weiterhin einen eher locker-flockigen bis absurden Tonfall, landet aber nun bei wirklich problembehafteten Themen: Wie freiwillig haben eigentlich die einst so großartig behaarten 159 Menschen ihr Haupthaar hegegeben? Der Handel mit Haaren entpuppt sich in weiten Teilen als kriminell. Unter Anwendung körperlicher Gewalt wird jungen Mädchen aus Afrika und Asien, aber auch Indigenen aus Lateinamerika das Haar genommen, um es zu Perücken zu verarbeiten und in der westlichen Welt zu verkaufen – das sind kolonialistische Attitüden in Reinkultur. „Wieviel wissen wir wirklich?“, fragt Abenaa Prempeh – kaum ein Perückenträger oder eine Perückenträgerin hat wohl je über die Herkunft der Haare nachgedacht. 100 % peruanisch-amazonisches Haar – ja, die Menschen wollen die genetische Herkunft ihrer Haare kennen, aber das Schicksal der betroffenen Individuen unter den Spendern interessiert sie nicht. Witzig ist die von den Schauspielerinnen und Schauspielern performte Perücken-Werbung. Aber immer wieder fragt die Inszenierung: „Willst du es wirklich wissen?“ Je mehr wir nachforschen, desto mehr komplexe, kaum noch auflösbare Verflechtungen werden offenbar, in die wir – Gott bewahre - am Ende noch selbst verstrickt werden.
Kolonialismus, indigene Völker – da ist der Schritt zu Mythen und Magie nicht weit, zu Aberglaube und zu Geschichten über wider ihren Willen geschorene Jungfrauen oder über 83jährige, die aus Angst vor dem Diebstahl ihres Haupthaars ihr Haar essen, das sich dann mit den Gedärmen verbindet und Oma wie eine Schwangere aussehen lässt. Magie hat diese Aufführung nicht nur wegen solcher Geschichten oder wegen des wunderbaren Licht-Designs. Auch das irrlichternde Wortkonzert, das die Schauspielerinnen und Schauspieler gestalten, ist magisch. Mit nahezu jedem Wort, jeder Silbe wechseln sie sich ab, sprechen mal chorisch, mal einzeln, mal zu zweit oder dritt. Das ist kein Stammeln, Stottern oder Suchen, sondern es ist Musik – und zwar Jazz: Wie die Dramaturgin Dorothea Neweling vor der Aufführung erläutert, ist die Verteilung des Texts auf die einzelnen Akteure nicht im Detail festgelegt, so dass jeder Abend bis zu einem gewissen Grad auch auf Improvisation beruht. Vier Schauspielerinnen und zwei Schauspieler sind die Stammbesetzung (William Cooper, Gina Haller, Veronika Nickl, Abenaa Prempeh, Lukas von der Lühe und Jang Xiang). Trotz des krankheitsbedingtem Ausfalls von Xiang fanden die verbleibenden fünf in der besuchten Aufführung zu einem perfekten Rhythmus und einer wunderbaren Balance zwischen Melancholie, Trauer, eigenwilligem Humor und skurriler Poesie. Manuela Infante, die Regisseurin und Autorin, ist der deutschen Sprache nicht mächtig, und so wird deutlich, dass viele der wunderbaren Pointen und Wortspiele, die das Stück bereithält, vom Ensemble entwickelt worden sein müssen. Wenn man („in einer Zeit, wo er kahl wurde“) von Ludwig XIV. auf Karl den Kahlen kommt, gerät die englische Übertitelung, die das Schauspielhaus Bochum in der Ära von Johan Simons stets anbietet, gehörig ins Schleudern, das Publikum aber ins Schmunzeln, und Sentenzen wie „Mit Dünger wachsen Dinge schneller, aber dünner“ durften auch nicht aus dem chilenischen Spanisch übersetzt worden sein…
Wach sollte man also sein, um die unzähligen Pointen mitzubekommen. Man merkt dann auch: Es geht nicht nur um Haare: Es geht um die Funktion von Zeit. Meist wirkt die Zeit bedrohlich in diesem Stück, vor allem für alternde Menschen wie die Schauspielerin. Die Zeit stapelt: z. B. die DNA-Spuren von 159 Menschen in der Peru-Perücke. Nur in der Perücke steht die Zeit still - Echthaare wachsen noch, wenn der Mensch bereits tot ist. Und wenn man selbst stillsteht, weil man zu viel Zeit hat, weil einem die Arbeit genommen oder der Sinn des Lebens abhandengekommen ist? Dann „wächst man in den Raum wie eine durstige Pflanze.“ Und weiß: Die Zeit ist ein Mörder. Sie tötet – garantiert.