Eine schrecklich nette Familie
Es beginnt als nettes Geplänkel zwischen zwei Ehepaaren. Sie neckt ihn, weil er sich in fortgeschrittenem Alter die Haare zu färben beginnt, erzählt von ihren Sorgen bezüglich einer bevorstehenden OP. Auch unterhält man sich über den Sohn, der „über die Grenze“ ist. Aus der Mutter sprechen Mutterwitz und Fürsorglichkeit, Vater redet die Dinge klein und scheint nicht so ganz bei der Sache - eine ganz normale Familie mit althergebrachten Rollenmustern also, eine Ehe, die nach Jahrzehnten zur Routine verkommen scheint, aber in der immer noch eine gegenseitige Zuneigung herrscht. Vater und Mutter lieben einander, und sie lieben auch ihren gemeinsamen Sohn. Eine nette Familie. Eine schrecklich nette Familie. Ihr Schrecken wird nach und nach enthüllt.
Das sich liebevoll neckende Ehepaar ist längst geschieden. Vater lebt mit einer anderen Partnerin zusammen, die offenbar einen sympathischen, gesellschaftsfähigen Sohn mit in die Ehe gebracht hat. Der eigene Sohn wusste, warum er „über die Grenze“ ist und soweit wie möglich von zu Hause wegziehen wollte. Man fand ihn, so wie er war, wohl nicht gesellschaftsfähig. Vater jedenfalls hat sich für ihn geschämt, hat ihn auch geprügelt, wie man später erfährt. Denn der Sohn ist homosexuell. Inzwischen - offenbar seit vielen Jahren - lebt er mit Nikola, seinem Lebenspartner, zusammen. Seine Eltern weigern sich, Nikola zu sehen, und nennen ihn nur den „Mitbewohner“. Was den auf einen längeren Besuch heimgekehrten Sohn selbstverständlich verletzt. Ist er nach Hause gekommen, um sich mit den Eltern auszusprechen, die unverkennbar eine ebenso große Sehnsucht nach einem liebevollen Verhältnis zu ihrem Sohn haben wie umgekehrt? Oder ist der Sohn heimgekehrt, um der Mutter nach ihrer bevorstehenden Operation beizustehen? Oder gar, um den Eltern endlich Nikola vorzustellen? So genau sagt das Stück es nicht. Geschickt lassen Autor und Schauspieler manches in der Schwebe.
Patrik Lazic hat ein Stück geschrieben über die Schwierigkeiten des Coming Out sowie der Akzeptanz von Homosexualität in Familie und Gesellschaft. Es ist aber auch ein Stück über die Unfähigkeit dreier sympathischer, wohlmeinender Personen, ihre Probleme miteinander offen zu diskutieren und Lösungen für sie zu finden. Lazic bezeichnet sein Stück als autofiktional. Homophobie mag in Serbien eine größere Dimension als in der westlichen Mehrheitsgesellschaft haben, doch auch in Deutschland hat ein Coming Out in manchen Familien noch ähnliche Sprengkraft. Als Zuschauer gerät man gerät ins Nachdenken: Wie hätten die eigenen Eltern das Coming Out ihres Sohnes aufgenommen? Mit welchen Problemen sind queere Menschen in unserer Gesellschaft konfrontiert?
In Our Son können beide Eltern ihre gesellschaftlichen Prägungen nicht überwinden. Der Wunsch, dass ihr das gelingen möge, dringt Mutter (Dragana Varagic) aus allen Poren. Vater (Aleksandar Dindic), enger in alten Rollenmustern verfangen, fällt die Überwindung von Vorurteilen schwerer - umso rührender sind seine wenigen ungeschickten Bemühungen. Vater ist stärker im Verdrängen als Mutter - aber weist nicht eine starke Fähigkeit zur Verdrängung auf eine Schwäche im Hinblick auf die eigene Resilienz hin? Auch dafür werden wir später Gründe geliefert bekommen.
Unabhängig voneinander haben Eltern und Sohn den Ratgeber „Ein anderes Coming Out“ des amerikanischen Psychotherapeuten Richard Cohen gelesen, der mit umstrittenen, in Teilen geradezu hanebüchenen Methoden eine „Heilung“ von homosexuellen Neigungen und eine Umorientierung zur Heterosexualität erreichen zu können glaubt und der inzwischen aufgrund zahlreicher Verletzungen des Ethik-Codes seine Zulassung als Psychotherapeut verloren hat. Das Buch sei, wie Dragana Varagic im Nachgespräch erläutert, nach seinem Erscheinen vor gut 20 Jahren in Serbien sehr populär gewesen. Dass auch der Sohn das Buch gelesen hat, zeugt von seinen seelischen Nöten. Die Eltern haben jahrelang daraus Hoffnung gezogen und glauben nach wie vor an die Wirksamkeit von Cohens „Healing Methods“. Die Ratgeber-Rezepte schlagen sie ihrem Sohn mit einer gewissen Ratlosigkeit vor; ihre Bemühungen sind jedoch aufrichtig und gut gemeint. Aber die Ideen und Formulierungen, mit denen sie gegenüber ihrem Sohn argumentieren, sind nicht nur übergriffig, sondern zutiefst verletzend. Ganz ehrlich? Man lacht sich kaputt. Denn vor allem die schauspielerisch glänzende Dragana Varagic bringt all das mit ungeheurem hintergründigem und subtilem Humor über die Bühne. Aber gleichzeitig schmerzt der Gedanke an die ungewollten Schläge, die der Sohn wieder einmal einstecken muss. Amar Corovic zeigt den jungen Mann, der gekommen ist, um die Liebe seiner Eltern zu suchen, mal sachlich, mal zugeneigt und mal aufbrausend und ist der „Normalste“ in der Familie.
Lazic arbeitet nicht mit Vorwürfen oder Unterstellungen. Im Gegenteil: Auch die Figuren der Eltern betrachtet er mit Zuneigung und Verständnis; ausgewogen behandelt er auch ihre Nöte und Kommunikationsschwierigkeiten und stellt sie gleichberechtigt neben die ihres Sohnes. Mit zunehmender Spieldauer werden auch ihre Schicksale deutlich. Vaters traumatische Gewalt-Erfahrungen im Jugoslawien-Krieg - wohl auch mit selbst ausgeübter sexueller Gewalt - führten nach Kriegsende in den Alkoholismus. Der in einem so starren maskulinen Rollenbild verhaftete Mann hatte den Boden unter den Füßen verloren - und das Glück, dass seine starke Frau ihn widerwillig wieder aufpäppelte. Sogar seine neue Partnerin nahm sie in der Wohnung auf, bevor sie ihn verließ, als sie ihn ausreichend gefestigt glaubte. Über mögliche Erziehungsfehler hatte sich das geschiedene Paar zuvor unterhalten - jetzt fallen harte Worte: Oberstes Prinzip sei für sie gewesen, den Sohn so zu erziehen, dass er NICHTS von seinem Vater habe, sagt Mutter. Diese Mutter verfügt über eine große Sensibilität. Die Zeichen, die der Sohn setzt, wissen dennoch beide nicht zu deuten. Weil in der homophoben Gesellschaft nicht sein kann, was nicht sein darf.
Daheim in Belgrad spielt das Team das Stück in einer Privatwohnung. Das Publikum sitzt „at arm’s length“ um das Schauspieler-Team herum; Dragana Varagic kocht Suppe und Lasagne; köstliche Düfte breiten sich aus. So rücken einem die Figuren näher auf die Pelle als in der etwas spröden Umgebung der Spielfläche im 34OST. Aber auch hier werden wir sehr unmittelbar Teil dieser Familie. Gespielt wird im Stile eines well-made plays - in realistischem Setting, mit präzise gezeichneten Charakteren und viel, viel Humor. Alle Figuren wachsen dem Publikum ans Herz. Aber kann es in dieser Familie ein Happyend geben? Nikola jedenfalls, die einzige Figur, die in diesem Stück einen Namen trägt, ist gar nicht erst mitgekommen. Obwohl - wenn man es recht bedenkt, bleibt auch das in der Schwebe. Die Hoffnung stirbt zuletzt…