Übrigens …

Schaf sehen im Düsseldorf

Wahrheit ist nicht jedermanns Sache

Alexander Steindorf macht den Liftboy und geleitet das Publikum hinunter ins Untergeschoss der riesigen diesjährigen Haupt-Spielstätte des Asphalt Festivals. An der Stirnwand des ersten von drei in den nächsten zwei Stunden nacheinander bespielten Räumen im 34OST, den ehemaligen Verkaufs- und Geschäftsräumen der Conrad Electronic, thront ein schwarz-weißes Schaf, das mit seiner Haltung und seinem Blick an einen Buddha erinnert. Später werden wir in eine sektenhaft anmutende Familie eintauchen. Wie einen Choral intonieren Julia Dillmann und Sandra Zawada ein kleines Liedchen: „So wie die Schafe sind auch die Menschen meist brav / und befolgen fast alle den Maulkorbparagraph“, singen sie grammatikalisch schief. Sie versprechen Erleuchtung statt der Last der Wahrheit. Daniel Fries begrüßt uns auf einer Fachtagung für Verschwörungserzählungen. Buddha und Choral weisen darauf hin: Verschwörungstheoretiker rotten sich ja oft in sektenhaften Vereinigungen zusammen. Die Dozenten der besagten Fachtagung wirken allerdings kaum minder merkwürdig. „Wahrheit ist nicht jedermanns Sache“, heißt es. Wer hier die Wahrheit gepachtet hat, bleibt lange unklar – diejenigen, die den Zusammenbruch der Sowjetunion den Machenschaften einer jüdischen Weltverschwörung zuschreiben, sind es jedenfalls nicht.

Langsam werden wir eingeführt in eine Geschichte, die die Rahmenhandlung des heutigen Abends bildet. Johanna, eine wackere Linksliberale (Anna Magdalena Beetz), und ihr Zwillingsbruder Sebastian (Jonathan Schimmer) haben einander politisch verloren. Ihre anfängliche Kontroverse wirke, wie Johanna nicht ganz zutreffend analysiert, wie eine Auseinandersetzung zwischen Annalena Baerbock und Sahra Wagenknecht – klimabewegte Putin-Feindin trifft auf migrantenfeindliche, putinfreundliche Populistin mit nationalistischen Zügen? Immer mehr driftet Sebastian in eine rechtsradikale Szene ab, wo er empfänglich wird für krude Verschwörungstheorien. Johanna besucht in ihrer Not besagte Fachtagung und landet gedanklich wie bühnentechnisch in Sebastians neuer Welt auf dem Bauernhof „Zur hellen Sonne“. Zu ihrer Überraschung trifft sie dort auf scheinbar unendlich tolerante Menschen, deren altdeutsches Outfit und Erscheinungsbild man sich allerdings auch auf einem idyllischen Ölgemälde im Wohnzimmer von Götz Kubitschek vorstellen könnte. Friedlich, von eigener Hand und ohne maschinelle Unterstützung bestellen sie ihren Acker und leben ökologisch vorbildlich von selbst angebauten Möhren. Den Klimawandel halten sie allerdings bestenfalls für einen guten Witz und Corona-Impfungen für eine skurrile Laune einer verwirrten Mehrheitsgesellschaft, aus der man sich längst verabschiedet hat. Gründe für den Ausstieg dieser Menschen aus der Gesellschaft untersucht die Inszenierung nicht, aber sie stellt in der Folge immer wieder die Frage, bis zu welchem Punkt extreme Ansichten und Lebensformen von der Demokratie legitimiert sind respektive ab wann sie gefährlich werden und ein Eingreifen bis hin zu Verboten erfordern. Dieses durchaus anerkennenswerte Bemühen um politische Correctness wird bisweilen allerdings wieder konterkariert, indem namentlich genannte demokratische Politiker der CDU (und zwar keineswegs nur vom rechten Rand) in die Nähe der Rechtsradikalen gerückt werden. So befeuert man wiederum – bewusst oder unbewusst – die Spaltung der breiten demokratischen Mitte unseres Landes, auf die wir eigentlich stolz sein sollten.

Dass rechtsradikale Menschen und Aussteiger vordergründig durchaus freundliche und hilfsbereite Menschen sein können, lässt sich bereits in Juli Zehs großartigem Roman „Über Menschen“ nachlesen – nicht nur wegen des Umfangs von 416 Seiten erheblich differenzierter. Christof Seeger-Zurmühlens Inszenierung sowie der Text von Julian Hendes balancieren lange auf dem Grat der Unentschiedenheit. Das tut Zehs Dora auch, aber die Zielrichtung von Zehs Roman bleibt stets deutlich, während Johannas Irritation sich auf das Publikum überträgt – im Hinblick auf die Zielrichtung der Inszenierung. Dann aber wendet sich die Aufführung recht unvermittelt den Reichsbürgern von Heinrich XIII. Prinz Reuß und der Fortschreibung des Deutschen Reichs von 1871 bis heute zu. Die angebliche Galionsfigur der Reichsbürger im Purpurmantel durch eine Person of Colour (Azizé Flittner) darstellen zu lassen, ist eine witzige, hochironische Idee. Ohnehin folgt nun die unterhaltsamste Szene des Abends: Beinahe stakkatoartig betet das Ensemble fast das ganze Repertoire der durchgeknallten Theorien und Glaubensgrundsätze verschiedener Verschwörungs-Communities herunter. Angela Merkel als Echsenmensch oder Tochter von Adolf Hitler, Bill Gates als mittels angeblicher Corona-Impfstoff-Infusionen zum Welt-Kontrolleur aufgestiegener Herr der Finsternis, interkontinentale Tunnelsysteme unter der Erde, in der Schlachten zwischen Robotern und menschlichen Klonen geführt werden, Anti-Aging-Produkte aus dem Blut von entführten und gefolterten Kindern – you name it, alles, was wir in den vergangenen Jahren an aberwitzigem Verschwörungs-Unsinn gehört haben, wird zum Klingen gebracht. Die von einem College-Studenten erfundene, satirisch gemeinte Geschichte von den Tauben, die in Wirklichkeit von der US-Regierung zu Spionagezwecken eingesetzte, mit Federn getarnte Drohnen sind und auf unseren Stromleitungen sitzen, wo ihre Akkus aufgeladen werden können, erscheint gegen manche dieser Glaubenssätze geradezu harmlos. Magdalena, die Mutter der Agrarbauern-Aussteiger (Julia Dillmann) ist auf einer höchst eigenen Suche nach der Wahrheit: „Gibt es ein Wissen, das unabhängig vom Wissenden ist?“, fragt sie und stellt die Entstehung von Wahrheit in Frage: Sie werde durch „vielfältige Zwänge“ hervorgebracht.

Heinrich XIII. Prinz Reuß und die Akkumulation von Verschwörungstheorien hat der ehemalige Titanic-Chefredakteur Oliver Maria Schmitt am 19. Juni d. J. in einem FAZ-Bericht über ein zufälliges Zusammentreffen mit dem Prinzen in unübertrefflich ironischer Form charakterisiert. Er bescheinigt dem Reichsbürger-Chef einen „massiven und fundamentalen Lattenschuss“. Bei der Lektüre von Schmitts funkensprühendem Artikel kommt man zu dem Schluss, dass der Prinz mutmaßlich eher in die Klapse als in den Knast gehört. Bloß: Der Mann nimmt den von ihm verzapften Unsinn nicht nur ernst, sondern er findet auch noch jede Menge bewaffnete Follower. Zusammen mit dem erkennbaren Bemühen um gleichzeitige größtmögliche politische Correctness und die Vermeidung des Verrats linker Ideen dürfte dies der Grund dafür sein, dass sich das Theaterkollektiv Pièrre.Vers nicht recht traut, sein Thema auf satirische Weise aufzuarbeiten. Die Inszenierung leidet an einer großen Angst vor Ironie und arbeitet mit langen Passagen theateruntauglicher, sachbuchartiger Texte. Man möchte offensichtlich jede Form von „Othering“ vermeiden und sich gleichzeitig deutlich gegen rechtsradikale Tendenzen positionieren. Das ist ehrenwert und zeugt - sieht man von einigen erwähnten Passagen ab - von einem tiefen Demokratieverständnis. Natürlich sind die Grenzen zwischen (gerade noch) akzeptablem Abweichlertum und gefährlicher Demokratiefeindlichkeit an den rechten wie linken Rändern unserer Gesellschaft fließend, und sie werden sicher individuell unterschiedlich gezogen. Nur durch politische Aufklärungsarbeit wird man aber die beschriebenen Auswüchse der Gesellschaft nicht in den Griff bekommen. Und so überträgt sich Johannas Ratlosigkeit auch auf den Rezensenten, der letztlich eine sowohl künstlerische als auch politische Inhomogenität, wenn nicht gar Mutlosigkeit der Inszenierung konstatiert.