Das große Warum der Liebe und des Lebens
Die großartige, unter die Haut gehende Stimme von Alain Delon empfängt das Publikum vor Beginn der Aufführung. Im Duett mit Dalida singt er „Paroles“, cette belle histoire d’amour mit ihren mots faciles et mots fragiles. Dann stürmt ein anderer Star des französischen Schauspieler-Kinos auf die kleine Bühne des Hinterhof-Theaters in der Rottstraße: Jean-Paul Belmondo (vielleicht auch Jean-Paul Belmondo, wie er Humphrey Bogart kopiert). Jung ist er; Sonnenbrille und etwas aus der Zeit gefallene Bewegungen betonen die Lässigkeit, mit der Henry Morales als Michel in der Rottstraße die Zigarette hält. Er lässt sich auf das flüchtig gemachte, armselige Bett fallen, das in der Mitte der Bühne steht, imitiert ein paar Lenkrad-Bewegungen und definiert seine Position gleich in zweifacher Hinsicht: „Ich bin ja eigentlich ein Schwein“, sagt er. Und: „Ich bin im Auto.“ Kurz darauf fällt der Schuss.
In einem gestohlenen Luxus-Schlitten unterwegs, hat der Protagonist bei einer Polizeikontrolle einen Polizisten erschossen. Alexander Ritter lehnt sich in seiner Nacherzählung von Jean-Luc Godards Langfilm-Debut Außer Atem ganz eng an die Vorlage an, und doch erzählt er eine andere Geschichte. Der von Belmondo manchmal in ironischer Bogart-Persiflage verkörperte Kleinkriminelle Michel Poiccard, der den Polizisten eher zufällig als absichtsvoll getötet hat und auf dem Weg zu seiner Kurzzeit-Geliebten nach Paris ist, verfügt über einen äußerst rauen Charme, wenn man seine Flirts mit der amerikanischen Journalisten-Volontärin Patricia Franchini überhaupt als charmant bezeichnen kann. Ist da wirklich Liebe im Spiel, wie es Belmondos Michel der Patricia der Jean Seberg immer wieder in etwas langatmigen Dialogen vorjammert? Oder kreist Belmondos Michel nicht eigentlich in einer Art nihilistischer Melancholie um sich selbst? Auch wenn seine Liebe nicht allzu tief empfunden ist, so spürt man bei Belmondo doch eine tiefe Sehnsucht nach … ja, nach was eigentlich? Nach einer Beziehungsfähigkeit? Nach dem Sinn des Lebens? - Immer wieder (und oft ganz unvermittelt) geht es in Godards Film um den Tod: Da wird der Polizist erschossen; da wird Michel zufälliger Zeuge eines Autounfalls, bei dem ein Fußgänger ums Leben kommt; früher einmal hat Michel angeblich in Algerien „Soldaten abgemurkst“; es gibt einen zynischen Witz über einen zum Tode Verurteilten. Völlig unvermittelt stellt Michel Patricia mitten im Liebensgeplänkel die Frage, ob sie manchmal an den Tod denke. Er selbst denke unentwegt daran. Patricia konfrontiert ihren Bettgenossen mit einem Zitat aus William Faulkners „The Wild Palms“: „Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Leiden, dann wähle ich das Leiden.“ Michel wählt das Nichts. Auf die Frage nach dem Ziel seines Strebens antwortet der von Patricia interviewte Schriftsteller Parvulesco: „Nach Unsterblichkeit. Unsterblich werden, und dann sterben…“
In Godards Film liegt Michel im Bett und seufzt: „Ich bin so müde. Ich möchte sterben.“ Und er handelt danach, als Patricia ihn, den gesuchten Polizistenmörder, verrät. Godards 1960 erschienener Film hat, dem damaligen Zeitgeist entsprechend, eine klare nihilistisch-existenzialistische Komponente. Obwohl fast alle der oben erwähnten Zitate auch in Alexander Ritters Textfassung in der Rottstraße 5 vorkommen, legt der Regisseur einen anderen Schwerpunkt. Ihn interessiert die Liebesgeschichte zwischen Michel und Patricia (Lise Wolle). Bei Ritter gewinnt diese eine ganz andere Tiefe; Michels Liebe wird glaubhaft, Patricias Zögern wird - anders als im Film - überwunden. Patricia und Michel tanzen gemeinsam in einer Disko; der rastlos telefonierende Michel erfährt endlich, dass der ihm angeblich eine größere Summe Geldes schuldende Antonio Berrutti zahlen will und kann. Wild und ekstatisch wird der Tanz - es ist ein Moment vollendeter Liebe und ungetrübten Glücks, den es in Godards Film nicht gibt. Und dann geht Patricia zum Telefon und zeigt der Polizei den Aufenthaltsort ihres Geliebten an - jetzt, da sie ihn endlich aus vollem Herzen liebt.
Der Nihilismus interessiert Alexander Ritter nicht. Aber auch er stellt eine existenzielle Frage. Ihn interessiert das „Warum“. In großer Schreibschrift steht das Fragewort auf der Bühnenrückwand geschrieben. Patricia wehrt Michels Frage nach dem Warum dieses „Warum“ unwillig ab. Aber viele Sätze in dieser 80minütigen Inszenierung beginnen mit diesem Wort: Warum bist du hergekommen? Warum schläfst du nicht mit mir? Warum hast du nicht aufgepasst (als Patricia Michel erzählt, dass sie schwanger ist)? Meist ist es die Frage nach dem jeweiligen Verhalten des anderen; es sind die kleinen Warums des Alltags. Doch erzählt die Aufführung auch von den großen Warums des Lebens: Einmal berichtet Michel flüchtig von seiner familiären Vergangenheit, vom Vorbild seines großen Bruders, der plötzlich verschwand. Man ahnt, warum der labile Kleinkriminelle ist wie er ist. Bei Parvulesco diskutiert man darüber, ob man nicht vielleicht in einem Fehler lebt - eine Abzweigung verpasst hat zu einem anderen Leben. Hinter der kleinen Liebesgeschichte lauert das große Warum unseres Lebens, das sich in dem merkwürdigen Verrat des Geliebten in der Stunde der Entdeckung der Liebe noch einmal manifestiert. Vielleicht ist die in der Inszenierung geschilderte Form der Suche nach dem Warum des Lebens und des Liebens die moderne Version der vergeblichen Sinnsuche des Existenzialismus.
Sie habe Michel verraten, damit er flüchte, behauptet Patricia und wirkt wenig überzeugend. Warum hat sie ihn ans Messer geliefert? Vielleicht liegt die Antwort in ihrer eigenen kurzen Selbstreflexion zur Mitte der Aufführung (und des Films): „Ich weiß nicht, ob ich unglücklich bin, weil ich nicht frei bin, oder ob ich nicht frei bin, weil ich unglücklich bin“. Nicht immer ist man frei und Herrin seines Handelns…
Bei Godard endet die Geschichte in einer eindrucksvollen Schluss-Szene. Lange, sehr lange stolpert der angeschossene Michel eine lange Straße hinunter, bevor er sterbend zusammenbricht - ein einsamer Junge auf dem Weg ins Nichts. Auch Alexander Ritters Inszenierung findet zu einem eindrucksvollen, durchaus überraschenden Ende, das wir nicht verraten wollen. Bei Delon und Dalida heißt es: „Mais c?est fini le temps des rêves…“