Übrigens …

Legende im Duisburg, Kraftzentrale

Große Bilder zu einem großen Regisseur

Ja, natürlich waren Schauspiel und Bildsprache auch vorher schon gut. Aber so richtig gepackt wird der Schreiber dieser Zeilen erst in der fünften von zehn Legenden, die die Basis für Kirill Serebrennikovs opulenten vierstündigen Bilderbogen darstellen. Es geschieht unmittelbar vor der Pause. Serebrennikov erzählt an diesem eigentlich sowjetisch-georgisch-armenisch geprägten Abend die Geschichte von König Lear. Serebrennikov bleibt nicht beim Sowjet-Imperium – auch Verdis „La Traviata“, Massenets „Werther“ und die Poesie von Walt Whitman kommen vor und springen durch Raum und Zeit. Goya, Caravaggio, Velázquez, Dürer und Delacroix fechten ihre Eitelkeiten aus angesichts der gemeinsamen Betrachtung von Velàzquez‘ „Portrait der Infantin Margarita“, das im Kiewer Chanenko Museum hängt. Botticelli ist der Ängstliche: Er wittert ständig Luftalarm. Denn wir sind in Kiew, im Jahre 2024.

Jetzt aber die Legende von Lear. Falk Rockstroh gibt den König als alternden Politiker von heute, der die Welt nicht mehr versteht und sich der Kritik seines Narren stellen muss. Lear war ein Diktator – jetzt ist er nur noch „ein Wichser … eine Null.“ Sein Volk stehe hinter ihm, glaubt er. Und wenn schon: Das Volk ist blind: blind vom Fernsehen, von der Propaganda des Diktators. Und das Volk ist stumm, weil ihm der Mund zugenäht wurde. Wie bei Shakespeare zieht ein Sturm auf – ein Sturm als „Metapher für Zerstörung und Wiedergeburt“. Im Auge dieses Sturms ist es ruhig: Ganz lyrisch beginnt das Lied für den untergehenden Diktator, bevor es dann anschwillt zur bedrohlichen Endzeit-Hymne: „Guten Abend, gute Nacht!“ Es herrscht Diktatorendämmerung. Gute Nacht, Lear, gute Nacht, Putin. Die Inszenierung greift vor auf Legende 6: Der Zar, der Kaiser, der Kriegsherr wird seiner Kleider beraubt und der Grausamkeit der von ihm geschaffenen Welt ausgeliefert.

Legende 6 ist die Geschichte vom Wunschbaum. Soweit, dass der Moskauer Autokrat seine Kleider verliert, sind wir noch nicht. Aber bedenkt man, welche Erwartungen der russische Aggressor bei seinem Angriff im Februar 2022 im Hinblick auf den ukrainischen und westlichen Widerstand gehabt haben dürfte, so steht Putin schon heute im ganz schön kurzen Hemd da…

Immer mal wieder stellt Serebrennikovs Inszenierung – meist versteckt, kunsvoll verkleidet – einen aktuellen Bezug zu Putins Spezialoperation Z her. Im Vordergrund jedoch stehen Motive aus der Welt des im georgischen Tiflis geborenen sowjetisch-armenischen Film-Regisseurs Sergey Paradjanov - aus einer Welt voller Phantastik und Folklore, voller Religiosität und Aberglaube, voller Paradoxien und surrealistischer, aber auch freiheitsliebender Bilder und Gedanken. Im Westen, wo Paradjanov deutlich weniger renommiert ist als beispielsweise sowjetische Kollegen wie Andrei Tarkovski, ist vor allem „Die Farbe des Granatapfels“ bekannt geworden, sein surrealistischer Film über einen armenischen Musiker und Troubadour, der u. a. Lady Gaga zu einem Clip für ihren Song „911“ inspirierte. Der Ideologie des pseudo-sozialistischen sowjetischen Imperiums, das seinen allzu phantasiebegabten Bürgern die Augen verband und den Mund zunähte, entsprach Paradjanovs Freiheitsliebe selbstverständlich nicht (auch das war ein Grund, warum der Filmregisseur häufig auf märchenhafte oder folkloristische Motive zurückgriff, um seine Botschaften zu verschlüsseln). Er wurde als Dissident verfolgt, mehrfach unter dem Vorwurf der Homosexualität oder der Beamtenbestechung verhaftet und zur Lagerhaft verurteilt. Filmgrößen wie Fellini, Godard und Truffaut setzten sich für ihn ein; der französische Schriftsteller Louis Aragon intervenierte sogar bei Leonid Breschnew persönlich zugunsten des Regisseurs.

Kirill Serebrennikov sieht zweifellos Parallelen zwischen Paradjonovs und seinem eigenen Schicksal, auch wenn die Willkür des Putin-Regimes es graduell besser mit ihm meinte als das sowjetische Regime mit Paradjanov: Serebrennikov – auch er als Homosexueller verfolgt – wurde mehr und mehr der Zensur unterworfen, der Unterschlagung von Fördergeldern angeklagt und zu Hausarrest und Bewährungsstrafe verurteilt. Auch er konnte auf zahlreiche Unterstützer aus der weltweiten Künstler-Community zählen. Kurz vor Kriegsausbruch tauchte er im Januar 2022 plötzlich und unerwartet in Hamburg auf, wo er regelmäßig mit dem Thalia Theater zusammenarbeitet. Mit diesem hatte er bereits aus dem Moskauer Hausarrest mit Hilfe von Video-Konferenzen die Inszenierung Der schwarze Mönch erarbeitet.

Seine Inszenierung von Legende zeichnet alle beschriebenen Motive aus Paradjanovs Filmen, aber auch aus seinem Leben nach. Die zehn Legenden stehen für die Themen, die Paradjanovs Leben und seine Kunst bestimmten. Poesie und Humor, Trauer, Bitterkeit und Biss, Rebellion und eine fast schon naive Liebe zum Menschen wechseln einander ab. Es ist eine unserem Kulturkreis fremde Welt, die Serebrennikov darstellt, und wer nicht intensiv mit dem Werk Paradjanovs vertraut ist, sollte sich nicht der Illusion hingeben, alle Bilder und Anspielungen verstehen zu können. Das ist aber auch überflüssig: Die Inszenierung wirkt über Wortfetzen, über Bilder und – insbesondere nach der Pause – über die Musik. Letztere reicht von Pop und Chanson bis zu den hinreißenden Klängen des 30köpfigen Georgian State Chamber Choir der Tifliser Sameba-Kathedrale, die der Aufführung eine geradezu magische Aura verleihen. (Leider wird der „Chor der Patriarchen“ an den späteren Aufführungen im Thalia Theater Hamburg oder bei den zu erwartenden zahlreichen Gastspielen nicht mehr teilnehmen können.) Großartige kaukasische Kostüme werden oft in einen ironischen Kontrast zum eher zeitgenössischen oder dem 20. Jahrhundert zuzuordnenden Geschehen gesetzt. Ironie ist ohnehin ein wesentliches Stilmittel, auf das Serebrennikov immer wieder zurückgreift. Ein auffälliger Wächter mit einem auf ein leeres Fenster gerichteten Hörrohr steht als Bild für die staatliche Zensur, die offen agiert, als spürbare Bedrohung einerseits, durchschaubar und naiv andererseits. In der „Legende vom Ruhmhändler“ bietet der Verkäufer mehr Fake als Fame an. Karin Neuhäuser, ohnehin inzwischen eine der großen Ironikerinnen des deutschen Theaters, gibt in einer der köstlichsten Szenen eine Legende sui generis: eine gealterte Diva, von der Last des Alters gezeichnet, aber vom eigenen Ruhm eingenommen und scheinbar ohne die mindeste Fähigkeit zu Selbstkritik und Bodenhaftung. Oder etwa nicht? Rauchend konstatiert sie, dass sie nichts mehr interessiere außer der „Verwandlung von Form zu Asche.“ Und noch die verkauft sie an die ihr ergebene Devotionalien-Sammlerin.

Ist die scheinbar von sich überzeugte Diva ebenfalls eine Metapher für Paradjanov? Der wusste genau, was er konnte, und bezeichnete sich schon früh als Genie. „I’m a Genius“, steht manchmal in Leuchtschrift auf seiner Kleidung. Starkult passte nicht zum Sowjet-System, so wenig wie Homosexualität oder Freigeistigkeit. Aber Paradjanov galt schon zu Sowjetzeiten als ein Künstler mit einzigartiger Ästhetik und einzigartigen Fähigkeiten. „Die Toten wollen, dass die Lebenden ihre Geschichten hören und sie nicht vergessen“, heißt es in der Aufführung in der Kraftzentrale des Landschaftsparks Nord, als Paradjanovs Eltern und der alte Jude Mischa aus ihren Gräbern auferstehen. Paradjanov, das im Westen noch so unbekannte Genie, das im Jahre 1990 verstorben ist, werden die Besucher dieser überwältigenden Aufführung sicher nicht mehr vergessen…