Zwei Gestalten, gebeugt unter der Erinnerungslast der Menschheit
Warten auf Godot, was erwarten wir? Den Inbegriff des Absurden Theaters: eine leere Bühne, darauf ein kahler Baum, darunter zwei einsame Gestalten, die auf einen geheimnisvollen Erretter warten, auf Godot.
Die beiden Typen: Wladimir, der Größere, Klügere; Estragon meist etwas kleiner, häufig dümmlich, verschlafen oder gar clownesk. Beckett selbst brachte bei seiner Inszenierung 1975 in Berlin am Schillertheater die beiden im schwarzen Anzug mit Melone auf die Bühne und soll damit bewusst auf das Dick-und-Doof-Duo Stan Laurel und Oliver Hardy angespielt haben. Auch gab’s Slapstick-Szenen mit Schuhen und Hüten. Vermutlich wünschte er sich, dass „viel und voller Trauer gelacht“ würde, wie es ihm bei Karl Valentin in München ergangen war.
Nichts von all der anarchischen Komik, nichts vom Humor der Verzweiflung lässt Ulrich Rasche in Bochum zu: bei ihm gehen die grausigen Schatten der Nachkriegszeit über in die Apokalypse der Menschheit. „Wir sind die Menschheit. Wir hier!“ resümiert Wladimir das Elend am Ende.
Wenn sich der Eiserne Vorhang hebt und dunkel-wummernde Musik ertönt, lösen sich ganz langsam zwei unscharfe Gestalten aus dichtem Bühnennebel. „Nichts zu machen!“ stöhnt der Eine im Näherkommen, noch weit entfernt von dem Kumpanen. Beide bewegen sich nur mühsam vorwärts, mit vorgebeugtem Körper und gekrümmten Knien in schmutzig-schwarzen Mänteln, auf ausgelatschten Schuhen scheinbar gegen die Wucht der permanenten Rotation der Drehscheiben am Bühnenboden ankämpfend. Diese rotieren mal in gleicher, mal in entgegengesetzter Richtung, ermöglichen so ein Sich-Nähern oder Entfernen, aber auch ein Auf-der-Stelle-Treten in ständig mühsamer Schrittbewegung.
Langsam verziehen sich die Nebelschwaden ein wenig und man ahnt im Hintergrund die fünf Live-Musiker, die uns über vier Stunden beim Warten auf Godot mit unerbittlichem Sound begleiten werden: mal mit bass-schwerem Schlagzeug, mal mit metallisch-grellen Blechbläsern, mal schmeichelnd monoton untermalend, mal offensiv themensetzend.
Über dem Ganzen öffnet sich ein großes Rondell und scheint einen Blick auf den Himmel frei zu geben. Doch bald schon wird klar, dass dies nicht der Himmel, sondern die Unterseite eines riesigen, von innen beleuchteten zylindrischen Objektes ist, das wie ein Raumschiff über dem Ganzen schwebt, sich mal in bedrohlicher Kipplage herabsenkt, um schließlich im zweiten Akt gelandet zu sein und eine riesige Bühnenwand zu bilden.
Mehr und mehr treten die Beiden aus dem Nebel, beginnen ihren Dialog in einer der Beschallung wie dem Bewegungsrhythmus angepassten Sprache, wobei zunächst nicht einfach zu unterscheiden ist, wer Wladimir und wer Estragon ist, da sie scheinbar auf gleicher Augenhöhe miteinander reden und streiten, wenn Steven Scharf als Wladimir den Estragon des Guy Clemens auch um einen Kopf überragt. Doch Rasches Estragon ist so gar kein Kretin, wenn er auch gelegentlich im (laufenden) Stehen einschläft und immer wieder zugeben muss, vieles zu vergessen. Auch über die Bibel und die Geschichte mit dem einen Schächer, der erlöst wurde, muss er von Wladimir unterrichtet werden. Eine für unsere Protagonisten interessante biblische Ungerechtigkeit, da sie beide auf eine Errettung warten und die Hoffnung auf eine gerechte Lösung noch nicht aufgeben wollen. Immer wieder - wenn auch nicht so oft wie im Originaltext - heißt es nach der Versuchung: „Komm wir gehen!“ „Nein, wir können nicht. Wir warten auf Godot“. Die zeitvertreibenden „Spiele“ der beiden gegen die tödliche Langeweile, die Beckett ihnen zubilligt, streicht der Regisseur und Bühnenbildner Rasche ganz, sowie den absurden Einschub um das Verspeisen der gelben oder weißen Rübe. Auch lässt er die Anreden „Didi“ und „Gogo“ weg, mit denen Beckett die beiden zusätzlich personifiziert.
Selbst den Jungen, den der Autor zweimal auf die Bühne schickt, um den beiden von Godot auszurichten, dass der nicht heute, sondern morgen kommen werde, lässt Rasche weg und nimmt dem ersehnten Godot damit den letzten Rest an möglicher Realität und damit für die beiden Wartenden eine Spur von Hoffnung.
Mitten in die Trostlosigkeit dieser Inszenierung treten die Figuren Pozzo und Lucky aus dem rot angestrahlten Nebel im Hintergrund. Pozzo jedoch nicht als der faschistoide Herrenmensch und Ausbeuter, der mit knallender Peitsche und demütigenden Schimpfworten seinen Diener wie einen Packesel am Strick vor sich hertreibt, sondern als schmalbrüstiger Jüngling (Dominik Dos-Reis). Lucky, der Diener dagegen als kräftiger, athletischer Nackter, der nicht mit Gepäck beladen daherkommt, sondern seinen Herrn kraftvoll geschultert auf die Bühne trägt (Lucky: Yannik Stöbener).
Pozzo erklärt sich dieses Menschen überdrüssig, obwohl der ihn einst über „Schönheit, Anmut und reine Wahrheit“ belehrte und fordert ihn boshaft auf, sein „Denken“ vorzuführen, was der mit einem roboterhaft vorgetragenen, wirren Monolog wie ein Maschinenwesen praktiziert. Ein demütigendes Erinnern an verlorengegangenes Können.
Nach der Pause ist es noch trostloser auf der Bühne, die Anzüge der beiden sind völlig verdreckt, der Gang noch gebeugter mit tastend oder abwehrend vorgestreckter Hand. Zu monotonem Sound kommt Wladimir angeschlichen, kaum hörbar das Lied „Ein Hund kam in die Küche“ vor sich hin brummend: eine Endlosschleife, eine Iteration der Sinnlosigkeit im Kinderlied. Estragon bejammert, von zehn Fremden verprügelt worden zu sein, findet aber keinen Trost bei Wladimir in einer Umarmung, wie sie Beckett anbietet.
Pozzo und Lucky tauchen wieder auf, die nackten Körper jetzt zur ergreifenden Skulptur ineinander verschränkt. Pozzo blind und Lucky stumm, sind sie nur noch die Verkörperung menschlichen Elends. „So ist die Zeit vergangen“, meint Wladimir angesichts der Hinfälligkeit der beiden, obwohl wir uns eigentlich nur einen Tag nach der ersten Begegnung befinden: Da blitzt dann doch ein Fetzen Absurdität auf.
Das Grauen der Erinnerungslast an Millionen Leichen und „all die toten Stimmen“ wird eher beiläufig erwähnt und reißt doch eine ganze Hölle auf. Es mag darauf hinweisen, dass Beckett das Stück 1948/49 in der unmittelbaren Nachkriegszeit schrieb. Er selbst hatte sich als Ire der Französischen Resistance angeschlossen und die Grauen des Krieges und des Massenmordens miterlebt.
Die Literaturwissenschaft hält für Warten auf Godot viele interessante Interpretationsansätze bereit, der historisch-autobiographische ist nur einer davon. Dennoch drängt er sich bei der düster melancholischen Bochumer Interpretation, bei der die Menschen im dunklen Nebel der Rat- und Hoffnungslosigkeit verschwinden, zweifellos auf.