Übrigens …

Liebes Arschloch im Theater Münster

Ein furchtbar netter Täter

Seine Taktik ist plump, aber effektiv: Schriftsteller Oscar Jayack beleidigt in einem kurzen Internet-Eintrag die Schauspiel-Diva Rebecca Latté - und mit ihrer empörten Antwort an das „liebe Arschloch“ ist der Anfang eines E-Mail-Dialogs gemacht, der sich über lange Zeit hinziehen wird. Genau das braucht Oscar nämlich: diese Gesprächspartnerin, die er schon als Jugendfreundin seiner älteren Schwester bewundert hat und die auf sein Leiden als vermeintliches MeeToo-Opfer eingeht.

Opfer? Die französische Autorin Virginie Despentes lässt in ihrem E-Mail-Roman Liebes Arschloch nicht nur die beiden Briefpartner zu Wort kommen, sondern auch die junge Pressereferentin Zoé Katana, die einst von Oscar sexuell belästigt wurde und nun in einem Blog darüber schreibt. Oscar ist sich keiner Schuld außer seinem Verliebtsein bewusst und schildert das ausführlich seiner Briefpartnerin Rebecca. Die aber lässt ihm das nicht so einfach durchgehen. Ihrerseits findet sie in Oscar jemanden, dem sie ihre Probleme als alternder Star anvertrauen kann. Das Brief-Duell wird zum freundschaftlichen Austausch.

Diese Entwicklung und das Thema der sexuellen Übergriffigkeit stellt das Theater Münster ins Zentrum seiner Bühnenfassung. Dramaturgin Victoria Weich hat den mitunter ausschweifenden Roman dazu nicht nur behutsam gekürzt - sie hat ihn eher zur dramatischen Novelle konzentriert und viele Handlungsstränge wie die Auswirkungen des Corona-Lockdowns oder die Irrwege der sozialen Netzwerke weitgehend gestrichen. Wodurch sich in spannungsvollen eineinhalb Stunden die Entwicklung einer seltsamen Freundschaft vollzieht, die stets vom Thema des Übergriffs, aber auch des Schicksals einer älter werdenden Frau grundiert wird.

Regisseur Ran Chai Bar-zvi geht auf die optischen Klischees eines dramatisierten E-Mail-Romans (zwei Menschen am Laptop) gar nicht erst ein, sondern lässt die Protagonisten in seinem Bühnenbild einer neutral weißen Wohnung aneinander vorbei und oft ins Publikum sprechen, wodurch der Monolog-Charakter vieler Mail-Passagen deutlich wird. Durch die eingeblendeten Blog-Einträge des Opfers Zoé, deren Leiden Oscar ganz allmählich begreift, sowie zuckende Musik- und Licht-Effekte entsteht ein zusätzlicher Rhythmus. Einen grandiosen Höhepunkt erfindet der Regisseur mit der Kaffeeszene: Nach einem Streit, der den Mail-Austausch fast abreißen lässt, finden Rebecca und Oscar in einem langen stummen Dialog wieder zueinander und nehmen optisch den möglichen Schluss vorweg. Was zugleich eine tolle Darbietung der beiden Schauspieler Agnes Lampkin und Raphael Rubino ist, die sich ansonsten kongenial in die langen Textpassagen einfühlen und glaubwürdige Typen verkörpern. Hier aber erzählen sie pantomimisch eine Paar-Geschichte am Frühstückstisch.

Ob Oscar am Ende des Stücks geläutert ist, darf angesichts seins Handy-Fotos in der Hose und seiner Freude über steigende Buchverkäufe nach den MeeToo-Vorwürfen bezweifelt werden. Kein Wunder, dass Rebeccas Zugeständnis, man könne sich ja auch mal treffen, sehr zögerlich kommt.