Der Davidstern im Weihnachtsbaum
Was soll der Davidstern im Christbaum? Nun, die Kinder haben ihn dorthin gesteckt, kaum ahnend, welche Symbolkraft das besitzt. Aber die große jüdische Familie in Wien kann sich darüber nicht wirklich ereifern – nimmt sie doch das Weihnachtsfest der Christen gern in den Reigen ihrer Feiern auf. Grenzen gibt es trotzdem: „Ostereier sind mir nicht geheuer!“, ruft eine der Frauen aus.
In der ersten Szene seines großen Dramas Leopoldstadt malt der britische Autor Tom Stoppard, bekannt etwa durch das Drehbuch von Shakespeare in Love, ein buntes Bild vom Weihnachtsfest der Familie Merz/Jakobovicz an der Schwelle zum Jahr 1900, so vielgestaltig wie etwa der Beginn der Buddenbrooks. Und natürlich geht es dabei nicht nur putzig und turbulent zu. Debattiert wird etwa über die gerade aktuellen Thesen des Autors Theodor Herzl zu einem Judenstaat. „Das hier ist das gelobte Land!“, wirft Hermann, der sich in der österreichischen Hauptstadt vollkommen heimisch fühlt, seinem Schwager entgegen. Er wähnt sich assimiliert. Doch assimiliert, so sein Gegenüber, sei man erst, wenn man seine jüdische Existenz unwidersprochen ausleben dürfe.
Stoppard entstammt einer tschechischen jüdischen Familie, wurde sich aber erst spät seiner Wurzeln bewusst und spürt solchen Geschichten am Beispiel der fiktiven Familie aus der Wiener Leopoldstadt nach. Dazu wirft er Schlaglichter auf vier geschichtliche Stationen: Nach der Eingangsszene durchkreuzt im Jahr 1924 auf kuriose Weise das Beschneidungsritual des jüngst geborenen Kindes die Geschäftsverhandlungen des Familienoberhaupts. Im Jahr 1938 sieht sich die Familie plötzlich mit den Schrecken des Nationalsozialismus in Österreich konfrontiert. Und 1955 wird von drei Übriggebliebenen schreckliche Bilanz gezogen: So viele sind zwischenzeitlich gestorben, nicht wenige von ihnen in Auschwitz.
Das von Daniel Kehlmann übertragene Stück hatte seine deutschsprachige Erstaufführung in Wien, das Theater Münster sicherte sich die deutsche Erstaufführung. Und vertraute sie der Regisseurin Johanna Schall an, die als Enkelin von Bertolt Brecht und Helene Weigel auch über ihre jüdische Identität reflektiert und im Programmheft über die derzeitige politische Situation in Israel schreibt. Auf die Bühne bringt sie das nicht, sondern vertraut klugerweise auf die Kraft der von Stoppard entworfenen Geschichtsbilder – immerhin liefern die Texte ja auch vielfältige aktuelle Anknüpfungspunkte etwa zum Thema der Aufnahmequote für Verfolgte.
Im Bühnenbild von Nicolaus-Johannes Heyse mit seinen unterschiedlichen Spielebenen in dezent historischem Ambiente setzt Schall ganz auf erstklassiges Regie-Handwerk: Sie führt das riesige Ensemble um „Hermann“ Christian Bo Salle mit geradezu choreografischer Präzision, so dass die verschiedenen kleinen Szenen sich nahtlos aneinanderreihen. Den akustischen Tücken für Schauspiel in Münsters Großem Haus zeigt sich das bestens harmonierende Ensemble bis auf wenige Momente gewachsen, und dass Stoppards Drama angesichts seines Themas immer auch nah an der Geschichtsstunde balanciert, wird erst im pathossatten Schluss sehr deutlich. Aber wie die zweieinhalbstündige Aufführung spannungsvoll auf diesen kathartischen Moment hinsteuert, das ist schon sehenswert.