Übrigens …

Ödipus im Mülheim, Theater an der Ruhr

Ödipus aus dem Weltall

Ein milder Sommerabend, Dämmerung liegt über der purpurrot, hochglanzlackierten Bühne im Raffelbergpark. Im Hintergrund eine angedeutete Felswand in leichtem Bühnennebel, davor Brocken, auf denen weiße Masken mit blondem Haarschopf liegen.

Aus einem Lautsprecher dröhnt es während des Einlasses: „Herzliche Grüße an alle!“ Doch hört man genauer hin, sind nicht wir mit dem Gruß gemeint, er richtet sich vielmehr an mögliche außerirdische Lebewesen in fernen Galaxien. Er ist Teil einer Soundcollage, in der uns der Tagesschausprecher vom 5. September 1977 ankündigt, dass die NASA die Raumsonde VOYAGER mit der „Goldenen Schallplatte“ ins All geschickt habe. Auf eben diesem (vergoldeten) Tonträger sind Bild und Audiobotschaften über unser Erdenleben in 55 Sprachen an vermutete Außerirdische gerichtet. Die Grüße, die uns erreichen, sind also während der Aufführung seit genau 17.162 Tagen unterwegs und in 24,59- Milliarden Kilometern Entfernung gleichfalls zu hören.

Der Sound geht über in sphärische Klänge und ganz langsam lösen sich acht weiße arglose Gestalten aus dem Wald. In aufwendigen, geschlechtsneutralen Gewändern, die Köpfe durch weiße, gefleckte Transparente anonymisiert, schieben sie sich langsam auf die Bühne, verneigen sich vor den Masken, nach denen dann , einer nach dem anderen zu greifen versucht. Doch bei jeder Berührung ertönen Schmerzensschreie, nur stöhnend und kämpfend gelingt es, die Maske aufzusetzen und erst nach einer Weile der Beruhigung findet man zur menschlichen Sprache, erst die Maske ermöglicht dem arglosen Körper menschliches Verständnis, erst mit ihr vermag man, sich den irdischen Problemen zu nähern. Durch die Masken zu „Personen“ geworden, nähern sich die Figuren einem der großen kanonischen Stoffe der dramatischen Literatur, den Sophokles vor zweieinhalb Jahrtausenden auf die Bühne brachte: Ödipus.

Die Regisseure Alexander Klessinger und Mats Süthoff arbeiten in Mülheim mit der Übersetzung von Roland Schimmelpfennig (dem mittleren Teil des fünfteiligen ANTHROPOLIS-Marathons im Deutschen Schauspielhaus Hamburg) und wagen es, den uralten, viel gespielten Stoff weiterzudenken in eine wie immer geartete Zukunft.

Wie im alten Griechenland - unter freiem Himmel und hinter Masken – schicken sie rätselhafte Gestalten auf die Bühne, die zunächst unwissend, sich dem Stoff aus ganz fremder Perspektive nähern.

Mit den optisch verfremdeten Figuren - möglicherweise Aliens aus dem Weltall – nähern wir uns der tragischen Geschichte: König Ödipus muss den Mörder seines Vorgängers Laios finden, um das Land vor dem Untergang durch die tödliche Seuche zu retten. Dabei kommen Vatermord und Inzest ans Licht. Aber nicht minder dramatisch die Hybris der Großen, die glauben, sich mit ihrer Vernunft und Macht allen Prophezeiungen widersetzen zu können. Die Fremdheit der Gestalten auf der Suche nach dem Menschsein verstärkt dabei die Frage, die alles überlagert: Was ist der Mensch?

Großartig, wie Paulina Alpen aus der Anonymität der Figuren heraustritt, jetzt mit den Masken allein auf der Bühne , nimmt sie auf einem der roten Blöcke Platz und setzt zu ihrem großen Schlussmonolog an. Sie legt die Maske ab, mit und ohne die Verfremdung, mit und ohne Augenlicht verkörpert sie eindrucksvoll den wahrheitssuchenden Menschen.

Inzwischen ist es dunkel geworden, geheimnisvoll blinkt über dem Park ein rot-grünes Licht auf. Eine Drohne? Ein Gruß aus dem All? Begeisterter Beifall für einen außerordentlichen Theaterabend bei dem alles stimmte: die Sprache, das Licht, der Sound, der Ort.