Übrigens …

Eines langen Tages Reise in die Nacht im Bochum, Schauspielhaus

Ein Versuch, dem Leben ins Gesicht zu sehen

Der Vorhang hebt sich. Auf der Bühne steht ein Bilderbuch-Häuschen hell erleuchtet im Nebel, dazu ein monotoner Klang aus dem Off und dann: Peng! Bum! Ein Knalleffekt! Das idyllische Häuschen explodiert, ein Trümmerhaufen bleibt zurück.

 Zwei Figuren treten auf, tasten sich wortlos durch die Bruchstücke, tragen unaufgeregt einige Teile nach vorn: Gartenbank, Sessel, Tisch, Tassen, Gläser und nicht zu vergessen: eine Flasche Whisky. Ein eindrucksvolles Bild für den Versuch, die in Trümmern liegende Welt der Familie nach und nach wieder aufzubauen, das Leben neu zu ordnen. Es dauert eine Weile, bis die beiden zu sprechen beginnen, und in der ersten Szene erscheinen sie dann, wie ein ganz „normales“ Ehepaar. Sechsunddreißig Jahre sind sie verheiratet und versichern sich ihrer fortdauernden Liebe. Doch was dann dreieinhalb Stunden auf der Bühne erscheint, ist nicht die Geschichte einer großen Liebe, sondern die Katastrophe einer ramponierten Familie in einem Theaterstück, das Eugene O‘Neill 1941 schrieb und selbst - in der Widmung an seine Frau Carlotta Monterey - ein Schauspiel nannte, „das von altem Leid handelt, geschrieben mit Tränen und Blut.“ Er versah das stark autobiographische Drama mit einem Aufführungsverbot von 25 Jahren nach seinem Tod, das wäre bis 1978 gewesen, doch seine Frau gab es schon 1956 frei. (Posthum erhielt O’Neill dafür 1957 den Pulitzer-Preis und den Tony-Award.)

 Das Paar auf den spärlichen Gartenmöbeln sind James Tyrone und seine Frau Mary Cavan Tyrone an einem nebeligen Sommermorgen am Rande des Ozeans. Später kommen die Söhne Jamie und Edmund dazu, sie alle gehören zu einer Theatertruppe, die mit dem immer gleichen Stück durchs Land tourt und jetzt Ferien macht. Der einst gefeierte James - inzwischen reichlich abgetakelt und dem Whisky mächtig zugetan – gilt allen als Geizhals und im Laufe des Stücks werden ihm in Streit und Beleidigungsszenen heftige Schuldzuweisungen am Leiden und Scheitern aller Familienmitglieder zuteil. Pierre Bokma gibt diese Rolle großartig zwischen Anmaßung und aufkeimendem Verständnis, zwischen Selbstmitleid und Selbstgewissheit.

 Seine Frau Mary trieb er nach deren Ansicht durch seinen Geiz in die Morphium-Sucht, da er immer nur die verkommensten Hotels und die billigsten Ärzte für sie aussuchte. Auch die Unstetigkeit und Einsamkeit des Tourlebens wirft sie ihm vor und träumt sich in ihrem Rausch in die Jugend zurück. Nonne oder Pianistin wollte sie werden und glaubt im Delirium noch heute an diese Zukunft. Wenn das Stück mit dieser Phantasie endet, verliert sich jede Hoffnung auf Veränderung, es bleibt die Trostlosigkeit im Scheitern.

 Elsie de Brauw gewinnt dieser hochsensiblen Figur wenig Differenziertheit ab. Vor allem den Schlussmonolog als Klosterschülerin gibt sie ohne erkennbare innere Anteilnahme. Lediglich die Körpersprache in den Streitszenen kann überzeugen.

 Dann sind da die Söhne: Jamie, der Schauspieler ohne jede Ambition, dem Alkohol und den Dirnen verfallen, dem Guy Clemens erst zum Schluss in seiner Liebes-Hass-Erklärung an den kranken Bruder Intensivität zu geben vermag. Er warnt ihn vor der eigenen Umarmung: „Pass auf, und du hast das Messer im Rücken!".

Ein eindringliches Beispiel aller Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen der Figuren zeigt sich auch gleich zu Beginn, als alle Vier am Vormittag zusammentreffen: Mary hat gerade eine Entziehungskur hinter sich und ist schon wieder rückfällig geworden, versucht es vergeblich zu verheimlichen, doch Jamie will darüber sprechen, er sieht sein Schicksal an das der Mutter gebunden , während Vater und Edmund so tun, als sei alles in bester Ordnung und außerdem der Mutter gegenüber vorgeben, die schwere Tuberkulose Edmunds sei nur eine „Sommergrippe“. Man weiß um Lug und Trug und richtet sich ein in der Verdrängung. Wenn Mary scheinbar müde vorgibt, sich hinzulegen und einen langen Weg um den Trümmerhaufen herum sucht, schauen ihr alle nach, wohlwissend und verdrängend, dass sie sich einen Schuss setzen wird.

 

Dann ist da noch Edmund, der nach abenteuerlicher Seefahrt schwindsüchtig nach Hause kommt und dem geizigen Vater im drastischen Streit eine Behandlung in einem akzeptablen Sanatorium abringt. Auch er greift wie alle anderen immer wieder zum Whisky, doch geben viele Inszenierungen ihm in aller Trostlosigkeit eine Chance auf Heilung, auf Hoffnung, auf den nächsten, besseren Tag. Auch der Regisseur Johan Simons spricht in einem Interview davon, dass es wichtig sei, in der Krise „die Hoffnung zu bewahren“. Sein Edmund, den Alexander Wertmann eindringlich und hoch sensibel gibt, lässt diese Hoffnung aber nicht zu, wenn er am Ende verkrampft am Boden liegt, ein theatraler Hinweis auf den Autor O’Neill, der sich in vielen Szenen des Edmund spiegelt. Er litt am Ende seines Lebens an der Parkinson-Krankheit und Tuberkulose. Ganz nebenbei werden auch Malaria und ein Suizid erwähnt, auch das Zitate aus dem Leben des Autors, der dem jungen Mann aber auch poetische Monologe ins Stück schrieb, die auf ihn als Dichter verweisen.

 

Auch wenn nach der Pause die Trümmerteile schön aufgeräumt und sortiert da liegen, das Häuschen, die „Bruchbude“, wie Mary es nennt, steht nicht wieder und auch die Familie mag ein wenig aufgeräumter sein, denn letztendlich hängen sie aneinander, brauchen und lieben einander. Doch über allem liegt der dunkle Nebel des Ozeans und der Schatten der Schuldzuweisungen an jeweils den anderen.

 

Warum Johan Simons das Dienstmädchen gegen den Butler tauscht, bleibt schwer verständlich. Er nimmt der Szene, in der sich die beiden Frauen ihr Herz beim Whisky ausschütten, die Leichtigkeit. Denn die mehrfach verzückt geäußerte Bemerkung des Mädchens, dass der alte James immer noch „ein Bild von einem Mann“ sei, klingt beim Butler recht albern. Zudem weiß Konstantin Bühler das Potenzial der Nebenrolle nicht wirklich zu entalten.

 

Johan Simons inszenierte mit diesem psychologischen Meisterwerk zum ersten Mal einen amerikanischen Autor und nannte es im Interview ein „unfassbar gutes Stück.“ Das Publikum reagierte zunächst zögerlich, dann aber begeistert mit Standing Ovation.