Übrigens …

216 Millionen im Bonn, Theater

Ein schriller Totentanz

216 000 000 Klimaflüchtlinge werden bis 2050 ihre Heimat verlassen haben. Lothar Kittstein macht die Prognose der Weltbank zum Titel seines Stücks, das Volker Lösch mit vier Betroffenen und dem Bonner Ensemble in einer engagierten Inszenierung auf die Bühne bringt. Bei der dreiteiligen Aufführung lässt er individuelle Migrationsgeschichten und Weltgeschehen aufeinanderprallen, dabei werden allerdings ernsthafte Diskurse immer wieder durch Klischees und Parteilichkeit relativiert.

Auf der dunklen, leeren Bühne erscheinen vier weißgekleidete Personen, zwei Frauen, zwei Männer, die es nach Deutschland schafften. Laut brüllend schleudern sie - mal chorisch, mal solo – dem Publikum ihre Geschichten entgegen. Wir hören von den Problemen in ihren Herkunftsländern, den dramatischen Fluchterlebnissen aber auch von den Schwierigkeiten hier in Deutschland.

Da ist Nadia Feyzi aus Afghanistan, die vor Wassernot und Brutalität im Heimatland floh, und ihre im Iran geborene Tochter Kayci, die dort als Fremde kein Recht auf Schulbildung hatte und allein eine waghalsige Flucht im Boot wagte, dann aber auch in Deutschland lange von der Mutter getrennt bleiben musste, weil man ihnen die Beziehung nicht glaubte.

Aus Haiti kommt Pizzar Stanley Pierre, der sich in seinem Land wegen seiner sexuellen Orientierung nicht mehr sicher fühlte. Schließlich ist da noch Sadow Sow, der Guinea verließ, als die Kakaoplantage der Familie dem Klimawandel zum Opfer fiel. Sie alle berichten voll Trauer, Wut, Enttäuschung und mit unüberhörbarer Anklage gegen die deutsche Bürokratie. Sie nennen den Klimawandel den „neuen Kolonialismus“ und fordern, dass „alle diese Menschen angenommen werden müssen“.

Dann ein krasser Perspektivwechsel: Ein raumgreifender Gitter-Käfig - dekoriert mit EU-Sternen - wird auf die Bühne geschoben und während aus dem Off der WM-Hit „Waka Waka (This Time for Afrika)“ von Shakira ertönt, erklettern sechs Ensemble-Mitglieder jeweils von Kopf bis Fuß in eine auffallend bunte Farbe gekleidet das Gitterwerk. Mag das Gitter an Grenzzäune oder Gefangenenlager erinnern, so bietet es hier aber ganz im Gegenteil den Platz für eine privat organisiert und finanzierte Klimakonferenz. Eingeladen hat ein großer Ölmagnat namens Nat, den Daniel Stock im knallgelben Outfit herrlich geschmeidig und zwielichtig gibt. Eingeladen hat er einen jungen Wissenschaftler Paul (ganz in Grün: überzeugend unsicher bis hilflos auf diesem Terrain: Paul Michael Stiehler) und dessen Ehefrau, die Menschenrechtlerin Elena (cool und laut: Sophie Basse). Sie wird unterstützt von der jungen Aktivistin Lisa, ganz in Orange (reichlich überdreht: Imke Siebert). Gemeinsam kämpfen die beiden gegen die „Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ , die die EU im April dieses Jahres verabschiedete. Mit diesem hochaktuellen Bezug zur (Tages)-Politik bietet sich die ganz in (EU)-Blau gekleidete EU-Politikerin Nicola (affektiert gegeben von Lydia Stäuble) als bis in die Geschmacklosigkeit getriebene Von-der-Leyen-Karikatur als Gegenspielerin an. Die Sex-Szene zwischen Gelb und Blau, die dann zum neunten Kind der Politikerin führt, nachdem die vorab schon mit ihren vorhandenen acht Sprösslingen geprahlt hatte, ist maßlos überzogen und eher kontraproduktiv.

Während alle Figuren zu ernsthaften wie auch unsinnigen Argumenten halsbrecherisch in dem Gittergerüst herumturnen, löst sich ein gleichfalls geladener Gast, der Künstler Serge (bizarr, kraftvoll: Alois Reinhardt) vom Geschehen und setzt zu einer Kannibalismus- Performance an, indem er ein verpacktes Menschenwesen zu verzehren ankündigt, vorweg aber noch eine vage Christus-Persiflage einschiebt, indem er mit erhobenen Armen „mein Fleisch und mein Blut“ brüllt. Die anderen, die vom Künstler Unterhaltung, nicht Schock erwarteten, stürzen sich auf ihn und brüllend stürmt er in den Saal, allen drohend, dass er sie fresse.

Der dritte Teil beginnt mit einem wahren Knalleffekt: Aus dem Bühnenhimmel stürzen unzählige weiße, verschnürte Leichensäcke und bedecken den Bühnenboden. Alle zehn Agierenden erscheinen jetzt gemeinsam in eleganter Abendrobe - die Frauen in schwarzem Glitzer-Dress, die Männer im Smoking - und beginnen einen makabren Tanz auf dem Leichenfeld, dabei chorisch und durcheinander brüllend: „Das Land gehört mir! Alle Länder sind für alle da!“ Aber auch: “Deutsch ist Wurst, Bier und Goethe!“ Irgendwann beginnen sie - erschreckend lustvoll - die „Leichen“ zu einem Berg zu stapeln, um ihn dann später in einer gedehnten Ruhephase wieder abzutragen und die Leichenpakete in Reihe und Glied auf der Bühnenfläche akkurat zu ordnen.(Ein böses Bild für den Umgang mit den Opfern.)

Zum Schluss vom Bühnenrand ein Zitat aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 und die Anklage an alle, nichts erreicht zu haben. Eins ist klar: wir da unten sind die Bösen, die da oben die Guten.