Übrigens …

Die Nichtbesucherin. Etüden für ein Gebäude im Aachen, Theater

Ich feiere mich selbst und singe mich selbst

Auf allen drei Bühnenseiten riesige Projektionswände, davor ein spiegelnder Boden. Die Dramaturgin erscheint und befragt das Publikum nach der Motivation, heute ins Theater gekommen zu sein. Ob jemand vielleicht nur mitgeschleift wurde? Ja auch das kommt vor. Dann noch der Hinweis, irgendwann im Laufe des Abends auf ein Lichtzeichen von der Bühne hin doch bitte die Lampe des eigenen Handys auf die Bühne zu richten.

Etwas scheint heute anders zu sein als üblich. Wir erfahren, dass es um ein Projekt der Nichtbesucher:innen-Forschung geht. Interessant, zumal ja gerade diese Gruppe vermutlich nicht im Saal ist. Es gilt, der Frage nachzugehen, welche Chance das Theater noch in Konkurrenz zu den virtuellen Bühnen von Social Media und Streaming Plattformen hat. In Zeiten allgegenwärtiger „screens“ stellt sich das Theater Aachen anlässlich des 200jährigen Gebäudejubiläums der veränderten Situation mit dem Versuch eines neuen Genres, dem „post screen theatre“.

Im Programmbogen verweist die Dramaturgin Kerstin Grübmeyer auf die Untersuchungen des britischen Autors Shuman Basar, der mit dem Begriff „main charakter syndrome“ das Bedürfnis der Menschen beschreibt, in den digitalen Medien um sich selbst zu kreisen und sich dabei „zwanghaft als Hauptfigur in den Mittelpunkt zu stellen“

Hier knüpft POLLYESTER mit ihrer Inszenierung an. Es geht nicht darum, mit dem „post screen theatre“ das Ende der Bildschirme zu propagieren, ihre Funktion auf der Bühne - sei es für Live-Videos oder vorhandenes Bildmaterial - hat sich längst etabliert, nein, was wir auf den riesigen Projektionsflächen sehen, ist ein Blick über alles Geschehen hinaus. Es geht darum, Grenzen zu durchstoßen, Hintergründe aufzureißen, seien sie real oder irreal, authentisch oder synthetisch, optimistisch, pessimistisch oder auch keins von beiden, sondern apnostimistisch. Und wenn schon das Bedürfnis besteht, um sich selbst zu kreisen, dann doch bitte gleich im doppelten Sinn. Und so stellt das Theater in Aachen seinen Protagonisten deren Avatare „gleichberechtigt“ zur Seite.

Fünf gutgelaunte Figuren treten auf, alle in bodenlangen locker fallenden schwarzen Röcken, darüber T-Shirts mit höchst alltäglicher Werbung, sei es für die Innungskrankenkasse IKK, für World Tours 1.0 oder eine Trainingssoftware – nichts davon hat etwas mit der vertrauten Bühnenwelt zu tun. In zwölf „Etüden“ werden diese scheinbar theaterfremden Gestalten dann diverse virtuelle Alternativräume des Theaters aufrufen

Zunächst bleibt Benedikt auf der Bühne zurück. Vor dem riesigen Kopf seines Avatars auf der Leinwand erklärt er, was ein Schauspieler macht: Rezitation, Deklamation, Körperhaltung. Auf jede Beschreibung reagiert der „Zwilling“ völlig emotionslos mit „Okay“: eine kleine Groteske, herrlich gegeben von Benedikt Voellmy. Absurd wird es später, wenn das Doppel ausgedient hat und sich erhebt: Es war nur eine Büste.

Petya (Petya Alabozova) befasst sich in ihren Etüden mit „Form“ und „Ordnung“ bis hin zu politischen Strukturen und Rhythmen in Musik und Lyrik. Dabei lässt sie ihren Avatar durch Shopping Malls rasen, die sich in endlosen virtuellen Gebirgslandschaften verlieren.

Furkan (Furkan Yaprak) hebt in seinem „Point of View“ für seinen Avatar alle Distanzen auf, schickt ihn auf die Reise ins Weltall, lässt ihn diverse Galaxien passieren und erst „an der Grenze des bisher erforschten Alls“ umkehren, um dann in einem neuen Ansatz ein völlig gegensätzliches Ziel anzusteuern: das Proton im Kohlenstoff-Atom einer menschlichen Hautzelle.

Shehab (Shehab Fatoum) befasst sich mit dem Sterben, dem Tod und Scheintod, verlässt Raum und Zeit, begibt sich in virtuelle Höllenlandschaften. Auf der Bühne erscheinen dabei nur als dunkle Schatten erkennbare Figuren, die dann - vom Publikum angestrahlt - ganz real die Fünf in strahlend weißen Overalls erkennen lassen.

Nach einer bis an die Grenze erträglicher Sehbelastung reichenden Bilderflut, mit der Krisen und der „globale Zusammenbruch aller Narrative“ beklagt werden, kommt irgendwann der Avatar von Irina Popova herangeschwebt und beginnt mit der Sängerin im Duett zu singen: „Nimm mich mir und gib mich dir!“ Später dann gibt es ein prachtvolles Solo des 2. Wesendonck-Liedes von Richard Wagner „Stehe still!“ das mit dem Vers endet: „Erkennt der Mensch des Ew’gen Spur, / Und löst dein Rätsel, heil‘ge Natur!“

In der 11. Etüde ergreift Benedikts Avantar das Wort und kommt auf die gestellte Frage :“WAS MACHT EIGENTLICH EIN MENSCH?“ zur Behauptung des Prologs, dass „die Autofiktion das „Ich“ unaufhörlich castet“. Zitiert wird dazu aus dem Longgedicht des amerikanischen Lyrikers Walt Whitman, der in seinem Werk formal und inhaltlich alle Grenzen sprengt, und seinen GESANG VON MIR SELBST mit den Worten beginnt: “Ich feiere mich selbst und singe mich selbst“. Das könnte der Titel des ganzen Abends sein.