Das System Agamemnon ist überholt
Sie sei als Sklavin geboren und als Schnullerkind verkauft worden. Eine Erinnerung an ihre Mutter habe sie nicht. Später habe sie Musik am Konservatorium studiert: Phryne ist es, die da spricht, und mit ihr hat die Autorin Tine Rahel Völcker eine ganz neue Figur in ihre Überschreibung der „Orestie“ und der Geschichte der Tantaliden eingefügt. Phryne ist eine Hetäre, eine Art Edel-Prostituierte. Wie im alten Griechenland üblich ist sie eine souveräne, musisch und auch anderweitig gebildete Frau, die durchaus gesellschaftliche Anerkennung findet. So wie Hilke Altefrohne sie spielt, ist sie zumindest im ersten Teil der Uraufführung von We Are Family am Schauspiel Köln die einzige ernstzunehmende Figur in der ganzen Mischpoke am Hof von Agamemnon. Wie sie der geforderten Unterwerfung unter die Männer nachkommt, hat Stil. Diese Frau macht sich nicht klein. Mit so jemandem kann man ein neues Gesellschaftsmodell aufbauen…
Agamemnon hat Phryne auf einem früheren Feldzug erbeutet. Irgendwie ist sie jetzt so eine Art Nebenfrau für ihn - oder gar die Hauptfrau vor Klytämnestra, seiner Königin. Sie hätte alle Männer dieser Welt haben können, meint Agamemnon: „Aber jetzt gehörst du mir!“ Seien wir ehrlich: Auch wir hätten uns lieber der formvollendet und würdevoll auftretenden Phryne zugewandt als der Drama Queen Klytämnestra, die blondiert und im bonbonfarbenen rosa Minikleidchen noch im fortgeschrittenen Alter Töchterchen Iphigenie Konkurrenz machen zu wollen scheint. Iphi, im gelben Bonbon-Mini, trägt einen Hochzeitsschleier: Ihre Vermählung mit Achilles steht bevor, und davor hat sie durchaus Manschetten, denn sie kennt ihren von Papa ausgesuchten Ehemann noch gar nicht. Aber sie lernt schon mal ihre Lektionen zum adäquaten Verhalten einer Superhelden-Gattin: „Jeder Mann ist zuerst seinem Vaterland verpflichtet und dann erst seiner Frau.“ Oder: „Eine Frau glaubt an ihren Mann“ und hat „als Frau eines mächtigen Mannes … kein Recht, sich zu beschweren.“ Sprüche sind das…! Naja, im alten Griechenland waren sie wohl wahr, und vor wenigen Jahrzehnten im jungen Deutschland auch noch. Ob die Wirtschafts- und Polit-Kapitäne in Topmanagement-Positionen das heute so viel anders leben können, mag bezweifelt werden. Bloß gibt es heute mehr und mehr Kapitäninnen, was ja schon mal ein Fortschritt ist.
Es geht also um die Dekonstruktion des Patriarchats. Und die versuchen die Autorin sowie die Uraufführungsregisseurin Jorinde Dröse zumindest im ersten Teil des Abends als knallige Komödie zu inszenieren. Das erfolgt leider, aber absichtsvoll wenig subtil. Nicht nur hüpfen Iphigenie und ihre Mama in besagten bonbonfarbenen Kostümchen herum, auch Agamemnon in Feinripp-Unterwäsche und sein Bruder Meneleaos, dem die schöne, aber unstete Helena mit einem Ausländer durchgebrannt ist, sind Vögel eher niederen Fluges. Sie fechten miteinander billige Hahnenkämpfe aus; als Klytämnestra mit Orestes schwanger ist, gibt Aga den primitiven Potenzprotz, aber den Mut, gegenüber seiner Frau und Tochter zu bekennen, dass er Iphigenie längst für gute Winde an die Götter verschachert hat, findet der König nicht. Da ist Iphigenie denn doch von anderem Kaliber: Als sie erkennt, was Sache ist, rafft sich das Mini-Mädchen zu einer großen Geste auf: Sterbend trage sie zum Schutze ihres Landes bei, sagt sie. Über solche Heldenhaftigkeit mag man streiten, aber sie beweist zumindest Haltung.
Von ein oder zwei gelungenen Formulierungen abgesehen, ist das Stück leider sowohl inhaltlich als auch sprachlich platt; nicht mal die Ferse des Achilles schlägt Funken. Zugutehalten kann man dem Text, dass die Patriarchats-Kritik nicht zeigefingermäßig ideologisch daherkommt, sondern als leidlich amüsante Karikatur. Vor allem gibt es ja noch Phryne: Die erkennt früh die Zusammenhänge, die aus einem einfachen Dreisatz aus Opfer, Wind und Krieg resultieren: Wird Iphigenie geopfert, wird Troja zerstört. Bleibt Iphi am Leben, bleibt Troja heile. In between: The Wind of Change…
Auch wenn Phryne vergeblich für das Leben der Königstochter kämpft, sorgt sie dafür, dass das Stück in der zweiten Hälfte differenzierter daherkommt. Agamemnon ist tot, Phryne sowie als Staatschefin eine inzwischen zu souveränem Auftreten gelangte Klytämnestra haben die Macht übernommen und diskutieren über die Umgestaltung der Gesellschaft. Mehr Macht für die Frauen, mehr Anerkennung für Pflegeberufe, die Schließung des Gender Gap beim Arbeitseinkommen und bei der Besetzung von Führungspositionen, mehr soziale Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit und das Primat der Fürsorge des Staates für seine Bürger - bezüglich der Richtung der Veränderung sind sie sich einig, bezüglich des Tempos und des Ausmaßes nicht. Das „System Agamemnon“ hat sich überlebt, wissen beide, aber Klytämnestra, nunmehr an der Macht, strebt schrittweise Veränderungen an, Phryne den radikalen Umsturz. Sie will die Männer, die mittlerweile zu marmornen Denkmälern geworden sind, vom Sockel stürzen (von dem sie sich tatsächlich noch gelegentlich einmischen). Elektra gesellt sich zu den Frauen und vertritt deutlich konservativere Gesellschaftsmodelle; als liebende Tochter möchte sie ihren Vater auch weiterhin bewundern dürfen.
Erneut muss man Tine Rahel Völcker zugutehalten, dass sie die verschiedenen Modelle zur Herbeiführung von Veränderungen zur Diskussion stellt. Auch die radikale Position von Phryne wird von Hilke Altefrohne reflektiert und mit eher sanguinischem Temperament vertreten. Zur großen Literatur wird Völckers Stück dennoch auch in der zweiten Hälfte nicht: Der holzschnittartige Charakter des ersten Teils bleibt, die Dominanz der Comedy wird nunmehr abgelöst durch lange sachbuchartige Passagen. Als Kunstanstrengung bleibt We Are Family leider eher mau.