Übrigens …

Posthuman Condition im Köln, Freies Werkstatt-Theater

Mit Cyber-Po zum Happyend

Anders ist anders. Anders, der Sohn von Frank und Jane, wird ohne Po geboren. „Schatz, du bist ein Monster“, konstatiert Mutter liebevoll. Wenn Baby Anders schreit, klingt das im Freien Werkstatt Theater Köln wie die Alarmsirene auf dem Rathausdach.

Mutter Jane redet zwar mit einer merkwürdigen Automatenstimme, scheint aber sonst ganz okay. Vater Frank ist richtig nett. Wie schön, dass er im Home Office arbeitet: So kann sich ein wunderbares Familienleben entwickeln. Dennoch müssen Vater oder Mutter irgendetwas Böses getan haben. Denn nach kantonesischem Glauben bedeutet die Geburt eines Kindes ohne Hintern, dass Mutter oder Vater irgendwo schwer gefehlt haben. Hmmh…

Hmmh… - Mutter ist eine Fachfrau für Datenindikation. Sie arbeitet für ein Unternehmen, das Geschichten erfindet und diese den Menschen ins Hirn projiziert, so dass sie glückliche Bürgerinnen und Bürger werden. Gäbe es das bei uns, hätten wir kein Problem mit Rechts- und Linksradikalen: Die fänden den Staat alle ganz klasse, und keiner mehr muckte auf, egal, was die Politik anstellen würde. Und Vater? Der ist Drohnenpilot. „Unser Bester“, heißt es einmal. Quasi die personifizierte Drohne selbst, wie David, der Mann im Kontrollzentrum, lobend erwähnt. Mutter und Vater haben Jobs, in denen einem das Böse schon mal unterlaufen kann. Oder gar zur Aufgabenbeschreibung gehört, wenn man genau genug und ohne fremde Datenindikation hinschaut. Frank bittet um Befreiung von seinem Homeoffice-Platz. Er will vor Ort nachschauen, was eventuell schief gegangen ist, und begibt sich in die Provinz, gegen die sein Land Krieg führt. Und siehe da: Franks Drohne hat, anstatt wie geplant Waffen zu zerstören, versehentlich (oder gar durch die eigene Regierung manipuliert?) ein Umerziehungslager getroffen. Tausende von zivilen Opfern haben ihr Leben gelassen. Frank beginnt an seiner Regierung zu zweifeln - und ist alsbald verschollen.

Ihr Kind aber, das im wahrsten Sinne des Wortes keinen Arsch in der Hose hatte, wird zum Superman und Retter. Anders be-sitzt nun einen Cyber-Po. Das Hightec-Hinterteil ist auf dem aktuellsten Stand der Künstlichen Intelligenz, kann Unmengen an Daten verarbeiten und sich mit allen möglichen Elektrogeräten verbinden, sofern Auge und Hirn sie einmal gesehen haben. Anders ist zum Cyborg geworden - mit dem Nachteil, dass er rasend schnell altert. Am Ende der Geschichte, die sich, wenn nicht alles täuscht, über einen Zeitraum von gut zwei Jahren erstreckt, wird er 60 sein, seinen Vater gefunden und die Frau mit dem Baum auf dem Kopf geheiratet haben. Ein Happyend. Ob es Bestand haben wird, darf in Zweifel gezogen werden.

Eine irre Geschichte? Eine wirre Geschichte? Vordergründig wird sie noch viel wirrer, wenn außer der Frau mit dem Baum auf dem Kopf Gestalten wie „der Mann, der das Geisterkind füttert“, „die Ansammlung gequälter Seelen“, „die weiße Knochenfrau“ und andere merkwürdige Figuren, die angeblich ihren Ursprung in der kantonesischen Mythologie haben, das Drama bevölkern. Sie alle tragen zur Faszination von Pat To Yans so fremdartig schillerndem, phantasievollem Theaterstück bei, das Science Fiction, Mystik und faulen Zauber auf geheimnis- und humorvolle Art und Weise mischt. Der in Hongkong geborene und seit 2021 in Deutschland lebende Autor hat eine Dystopie entworfen, die auf die Segnungen und Gefahren des ungebremsten Einsatzes von Künstlicher Intelligenz in einer gar nicht so weit entfernten Zukunft vorausschaut und gleichzeitig die Sagen, Mythen und Moralvorstellungen einer lange zurückliegenden Vergangenheit zitiert.

Dank künstlicher Genmodifikationen ist es im Land gelungen, 85 Prozent der Erbkrankheiten auszurotten. Solche Erfolge bergen Gefahren: „Wenn ich an die Grenzen des gentechnisch Machbaren stoße, werde ich stets noch einen Schritt weiter gehen“, heißt es im Forschungslabor der Künstlichen Intelligenz. Wo gibt es noch moralische Grenzen, wo Hemmschwellen beim Eingriff in die Natur und das menschliche Leben? Fremdgesteuerte, körperlich, psychisch und sexuell umgestaltete Wesen bilden die „Ansammlung gequälter Seelen.“, während „die Frau mit dem Baum auf dem Kopf“, deren auf dem Scheitel sprießender, von genmodifizierten Eltern geborener Strauch ihr stets ihre wissenschaftlich manipulierte Herkunft ins Bewusstsein ruft und gleichzeitig die Sehnsucht nach einer unzerstörbaren Natur symbolisiert, zu bedenken gibt, dass in der von Pat To Yan beschriebenen Welt „die Vorstellung eines Ich … wahrscheinlich eine Illusion“ sei. Dem Autor geht es vor allem um die Ethik und Moral der KI und um die Frage, ob die biologische Spezies Mensch und ihre ethisch-moralischen Vorstellungen in Zeiten eines vollständigen gesellschaftlichen und technologischen Wandels aufrechterhalten werden können. Das Monster in diesem Stück ist nicht das Kind ohne Po. Der Monster sind viele: Janes Freundin Priscilla scheint skrupellos den Unrechtsstaat zu unterstützen; die „weiße Knochenfrau“ spielt eine wenig vertrauenerweckende Rolle im Leben von Frank - und was für ein Polit-Monster ist erst „der Mann, der das Geisterkind füttert“! Vor dem geistigen Auge des Publikums mag der höchst reale menschliche Züge bekommen, handelt es sich doch um den Vorsitzenden und Parteichef, Diktator und Manipulator eines kriegführenden Landes mit dem sprechenden Namen „Eine Mitte ohne Ende“, das Umerziehungslager in eigenen Provinzen betreibt und deren Insassen offenbar zur Ausrottung freigegeben hat. Das Land der Uiguren scheint da plötzlich ebenso präsent wie der bekannte Staatschef des großen Reichs, der sich im heimischen Parlament gottgleich gibt und wie sein Pendant in Pat To Yans Stück an die Ewigkeitsgarantie der Herrschaft seiner Partei glaubt. Beim Geisterkind handelt es sich um einen Menschen, der als Kind verbrannt und zu einem Amulett umgearbeitet wird, das den Alten beschützen soll. Doch der Staatschef wird sich im tödlichen Netz der Spinne verstricken, und Pat To Yan vergisst nicht, darauf hinzuweisen, dass Menschenfarmen und Lager in der Provinz zu destabilisierenden Flüchtlingsströmen führen werden.

Pat To Yans in vier Akten mit zahlreichen Kürzest-Szenen geschriebenes Stück ist also hochkomplex und aufgrund der kaum erklärten mythologischen Figuren sowie der zahlreichen, ihren Charakter erst nach und nach enthüllenden Rollen durchaus verwirrend, auch wenn die China-Kritik schnell deutlich wird. Jessica Glauses filmische Uraufführung während der Covid-Pandemie am Schauspiel Frankfurt, die im Frühjahr 2021 einige Wochen lang auf der Homepage des Theaters abzurufen war, erreichte aufgrund der ihr zur Verfügung stehenden technischen und visuellen Mittel sehr schnell die herausragende Faszination eines gelungenen Experimentalfilms. Guido Rademachers stehen solche Mittel nicht zur Verfügung. Er inszeniert das Stück am Freien Werkstatt Theater Köln mit nur drei Personen (Fiona Metscher, Felix Bold und Felix Breuel), die sich weit mehr als zehn Rollen teilen, ähnlich gekleidet sind und im Falle der beiden Männer zudem optische Ähnlichkeiten aufweisen. Das macht die Orientierung nicht leichter. Dennoch fesselt die faszinierende, vielschichtige Geschichte schnell die Aufmerksamkeit des Publikums. Dazu tragen immer wieder die kleinen Videos und optischen Tricks von Roberta de Lacerda Medina bei, die mal unterhaltsam die Reise des Drohnenpiloten durch die Gassen der Stadt illustrieren, mal aber auch an das Klonen von Menschen erinnern.