Übrigens …

Der Bau im Köln, Alte Wursterei

Realitätsflucht und Paranoia nach der Tagesschau

Wie tanzt man Strafzölle gegen China? Bei der Premiere, so erzählt die Tänzerin und Performerin Paula Scherf schmunzelnd, sei das etwas schwierig gewesen. Jeden Abend beginnt die Vorstellung nämlich pünktlich um 20.00 h mit der aktuellen Tagesschau. Scherf illustriert die Nachrichten mit improvisierten Choreografien, und es ist im wahrsten Sinne des Wortes Künstler-Pech, wenn es sich bei den ersten Meldungen um den Beschluss der EU zur Einführung von Strafzöllen gegen chinesische Elektroautos handelt.

Heute ist die Herausforderung überschaubar. Kanzlerkandidat Merz hält beim CSU-Parteitag eine recht emotionale Rede, Tanzbär Markus Söder ist versöhnlich gestimmt, doch wirken seine Loyalitätsbeteuerungen peinlich übertrieben, und dann folgt, woran man sich bei den Weltnachrichten eigentlich immer verlassen kann: Erschütterndes, Beängstigendes. Die Hisbollah hat israelische Stützpunkte nahe Haifa angegriffen und Israel Luftangriffe in Gaza gefahren. Sowas kann man gut tanzen. Und sowas ist leider an der Tagesordnung. Viele Zuschauer bekennen (auch am heutigen Abend), dass sie angesichts der täglichen Horrormeldungen längst keine Nachrichten mehr schauen. Die Augen zu verschließen - kann das eine Lösung sein, um sich zu schützen vor dem Leid und den Bedrohungen dieser Welt?

Vor dem offiziellen Beginn der Aufführung haben wir alle per Smartphone Fragen beantwortet: Was macht uns in unserem Leben Sorgen? Womit erlangen wir Sicherheit? Was könnten wir endlich tun, wenn wir keine Ängste mehr hätten? - Schwupps sind wir, ohne es zu merken, mitten in Kafkas „Bau“. Bei Kafka ist es ein nicht näher definiertes Tier, mutmaßlich ein Dachs, der sein Leben mit der Gestaltung und dem permanenten Umbau eines unterirdischen Baus verbringt. Er ist auf der Suche nach Sicherheit, nach einer Möglichkeit, seine in großen Mengen angehäuften Vorräte (also seinen Wohlstand) vor Eindringlingen und sich selbst vor Feinden zu schützen. Er sucht nach Ruhe und Frieden, doch beides kann er kaum genießen: Zunehmend leidet er unter Verfolgungswahn, rastlos schleppt er seine Vorräte hin und her; er baut seine labyrinthische Behausung weiter aus und gräbt bis in Tiefen, in denen er keine Nahrung mehr findet. Er entwickelt eine unheilbare Paranoia, und wenn er eines ganz sicher nicht mehr findet, so ist es Ruhe und Harmonie.

In der Aufführung von disdance project ist es unzweifelhaft ein Mensch, eine Frau, die Schutz sucht, die mehr und mehr verängstigt ist, die sich in die Isolation flüchtet - und sich damit der Möglichkeit beraubt, ihre versehrte Seele mit Hilfe eines stabilen Umfeldes und dem Aufbau von Vertrauensverhältnissen zu heilen. In Kafkas Erzählung taucht ein realer Gegner niemals auf. Die Feinde mag es geben, doch sie sind weit weg, weit davon entfernt, den Ich-Erzähler anzugreifen. Doch der erkennt: „Es sind nicht nur die äußeren Feinde, die mich bedrohen, sondern auch solche im Innern.“ Ähnlich scheint es in unserer realen deutschen Menschen-Welt zu sein: Es gibt es äußere Bedrohungen en masse - aber sind sie nicht weit weg von unserer individuellen Lebensrealität? Bedrohen sie tatsächlich unsere persönliche Sicherheit? Unseren Wohlstand? Den Fortbestand unseres Wertesystems? Wie kann man sich dagegen wehren? Durch Flucht, Realitätsflucht gar? Durch Isolation? Es sind die inneren Feinde, die uns am meisten bedrohen. Paula Scherfs Figur wird zu einer Kassandra, die von ihren eigenen Rufen am meisten erschreckt wird.

Während Paula Scherf Kafkas Text pantomimisch und tänzerisch illustriert, läuft dieser mit ihrer Stimme vom Band. André Lehnert fügt am Mischpult unmerklich die von den Zuschauerinnen und Zuschauern zeitweise auch während der Vorstellung in ihre Handys eingegebenen Antworten und Kommentare in den Text ein – mit Scherfs Stimme, völlig ohne Brüche. Wenn man es recht bedenkt: Auch eine KI, mit der solche Manipulationen möglich sind, kann einem Angst einjagen. Scherf demonstriert die Entwicklung von einer extrem schutzbedürftigen, aber teilweise auch die Ruhe und einen Cocktail genießenden Frau zur zitternden, paranoiden Persönlichkeit, die Alkohol allenfalls zur Betäubung ihrer Angst trinkt. Auf der Bühne kriecht sie bisweilen in eine enge Röhre, die an einen Dachsbau erinnern mag. Dunkel wird es sein in diesem bunkerartigen Versteck, dunkel und eng wie in der Seele dieses verängstigten Menschen, der eine „Gegnerschaft der Welt gegen mich“ empfindet. Eine solche Aussage grenzte an Hybris, entspränge sie nicht einer zutiefst kranken Seele.

Wie im realen Leben gibt es in solchen Situationen Helferlein - Helferlein und Scharlatane. Sie tauchen auf dem Bildschirm auf, auf dem zuvor die Nachrichten liefen. Ihre Szenen wurden sämtlich mit Paula Scherf als Schauspielerin vorproduziert. Da sind die Yoga-Frau und das Trad Wife, das Vertrauen und Sicherheit bei einem maskulinen, traditionellen Rollenmustern folgenden Mann sucht und ein von Fürsorge und Unterordnung geprägtes Leben anstrebt, da ist die Kraftfeldanalyse-Beraterin, die durch das Ausblenden von negativen Nachrichten Raum für „Liebe, Licht und positive Energien“ schaffen will, da ist die Esoterikerin, die auf die Kraft von Steinen oder Amuletten setzt, und da ist das konfrontative, in Camouflage-Hosen gekleidete Kampf-Weib, dessen zur Schau getragene Härte und Kampfbereitschaft möglicherweise ebenfalls aus tiefer Angst resultiert. Immerhin weiß sie: „Deine größte Waffe ist nicht dein Equipment, sondern dein Geist.“ Paula zieht unterdessen die Pistole. So wie sie zittert, wird sie beim Schuss auf den Feind allenfalls ein Ohrläppchen treffen…

Man kann die ganze Angelegenheit natürlich weiterdenken in unsere politische und gesellschaftliche Wirklichkeit: Was für Typen gebiert dieses Unwohlsein, diese Angst, diese Flucht in die Isolation oder in ein wie auch immer geartetes Außenseitertum? Was für politische Haltungen resultieren daraus, wenn man sich von den seriösen Medien abkoppelt, Nachrichten als Fake News abtut oder sie keiner rationalen Bewertung mehr unterzieht? Was für explosive Charaktere mögen da entstehen? – Mutmaßlich will disdance project aber so weit gar nicht gehen. Ihr Text ist, von den Video-Einspielungen und den wenigen eingefügten Zuschauer-Kommentaren abgesehen, Kafka pur. Und disdance project wäre nicht disdance project, wenn die Gruppe einfache Lösungen und Antworten anbieten würde. Wie schon bei ihrem Vorgänger-Projekt Störfall von Christa Wolf, siehe hierhttp://theaterpur.net/theater/schauspiel/2021/12/k-tiefrot-stoerfall.html -, bei dem den Gefahren und Unbehaglichkeiten angesichts der Nutzung von Atomenergie die Segnungen der Nuklearmedizin gegenübergestellt wurden, verurteilt ihre Kafka-Inszenierung nicht. Die Weltlage ist bedrohlich. Das zu ignorieren, ist ebenso Flucht wie die Hinwendung zu politischen Rändern oder in esoterische Parallelwelten. Ein jeder und eine jede von uns reagiert individuell auf die Bedrohungen dieser Welt. Wir sollten aber nicht vergessen: Wir alle leben in einer glücklichen Blase, in einem Land, das bei allen aufziehenden Krisen immer noch ein im weltweiten Vergleich ungewöhnlich hohes Maß an Stabilität, Sicherheit und Wohlstand sowie ein starkes soziales Netz aufweist. - Ab und an findet man in den Videos der Aufführung auch brauchbare Ratschläge: „Denke in Möglichkeiten, nicht in Problemen.“