Dominante Großmutter
Eine tatarische Familie zu Sowjetzeiten. Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Die 40jährige Rosalinda hat die Hosen an in diesem Drei-Personen-Haushalt. Sie ist schön, pragmatisch, temperamentvoll, schlagfertig. Und sie ist manipulativ und übergriffig. Wer will es ihr verdenken: Gatte Kalganov ist ein langweiliger Schluffen ohne jede Eigeninitiative, und Tochter Sulfia ist ein hässliches dummes Entlein. Ein Mann muss her für das Mauerblümchen; versorgungshalber, versteht sich. Aber woher nehmen?
Na, woher schon? Sulfia ist Krankenschwester, und da verliebt sich schon mal der eine oder andere Patient. In ihrem Leben wird es nicht nur einen geben. Dieser Physiker zum Beispiel ist mutmaßlich der erste. Was will der bloß mit so ’ner dummen Weibse? Über Atome reden? – Plötzlich ist Sulfia schwanger. Alarm; Kalganov wird ein Lügenmärchen aufgetischt. Eine Abtreibung ist erfolgreich – allerdings nur bei einem der Zwillinge. Aminat überlebt und ist so hübsch wie die Großmutter. Irgendwann wird sie auch ähnlich durchsetzungsfähig und manipulativ sein und es mit der Wahrheit nicht immer so genau nehmen. Aber das weiß Rosalinda ja noch nicht – und das Publikum im Theater Krefeld auch nicht. Großmutter, die ums Verrecken von der doofen Sulfia keine Enkel haben wollte, ist vernarrt in das Kind – lebenslang. Sie reißt Aminat an sich, kümmert sich um alles. Sulfia kümmert sich um nix. Dass das Kind fast nur bei ihrer (Sulfias) Mutter ist, kümmert sie auch nicht. Oder etwa doch?
Vielleicht ist Sulfia ja gar nicht so dumm und hässlich. Jedenfalls ergreift sie irgendwann einmal die Initiative und verlässt das Haus – mit Aminat am Arm. Und immerhin zieht sie noch ein paar Männer an Land – allerdings meist arrangiert nach den Regieanweisungen von Rosalinda, die stets einen Plan und stets einen Hintergedanken hat. Nur zu Aminats Bestem natürlich – oder? Wenn der Plan wider Erwarten zu einer Trennung von Oma und Enkelin führen könnte, wird er korrigiert - hinterhältig, brutal, ohne Rücksicht auf Verluste. Eine turbulente Geschichte nimmt ihren Lauf. Eine Weile tritt sie auf der Stelle, dreht sie sich im Kreise – das ist im Roman nicht viel anders als im Theater Krefeld Mönchengladbach, wo die Inszenierung von Alla Bondarevskaya zwischen den jeweiligen kleinen Spielstätten des Hauses in beiden Städten hin- und herwechselt. Von fern erfährt man ab und zu von den Unzulänglichkeiten des Lebens und der Versorgung in einer Provinzstadt der Sowjetunion, später auch von den schwierigen Migrantenschicksalen in Deutschland, dem Land der Sehnsucht, von dem man glaubte, dass dort die Straßen mit Shampoo gereinigt würden. Aber wer ist es, der dort die Reinigungsarbeiten übernimmt?
Allerdings stellen weder die Autorin noch die Regisseurin die sozialen Verhältnisse an den beiden wichtigsten Schauplätzen ihrer Erzählung in den Vordergrund. Stattdessen schleichen sich kleine Rätsel in die scheinbar so klare, komödiantische Geschichte ein, kleine Bedrohungen auch. Oder gar größere? Ist Aminats liebender Stiefvater ein Pädophiler? Ist das Ende, das plötzlich die Stimmung kippen lässt und dem Publikum durchaus die Kehle zuzuschnüren vermag, Realität oder Halluzination? Ist Alina Bronskys Roman respektive die Theaterfassung von Verena Meis eine Komödie oder eine Tragödie? – Die Antwort auf diese Fragen hänge von der Verfasstheit der Leserinnen und Leser (respektive der Zuschauerinnen und Zuschauer) ab, meint die Autorin. Und genau deshalb wird aus einer Inszenierung, die relativ boulevardesk beginnt, ein toller, berührender Theaterabend.
Vom weiteren Verlauf der Handlung wollen wir nicht erzählen. Kristina Gorjanowa als Rosalinda erzählt dafür umso mehr – die Figur der temperamentvollen, egoistischen, übergriffigen und doch stets den Kalamitäten des Lebens mit guter Laune entgegentretenden Frau wächst einem ans Herz. Wie die Schauspielerin am Ende den recht abrupten Stimmungswechsel bewältigt, ist herausragend. Christoph Hohmann spielt sämtliche anderen Rollen: diverse Gatten und potentielle Liebhaber, die Tochter Sulfia, die Enkelin Aminat und andere mehr. Sie alle sind wortkarg, introvertiert, irgendwie verkrampft – skurrile Underdog-Gestalten halt. Alla Bondarevskaya inszeniert die beiden Schauspieler so, als kämen sie aus zwei verschiedenen Theatertraditionen: Hohmann karikiert und legt maximalen Abstand zwischen sich und die Rollen, Gorjanowa spielt eher realistisch. Das ist ein reizvoller Kontrast, der jedoch auch der literarischen Figurenzeichnung entspricht. Ein wenig Russen-Pop trennt die einzelnen Szenen voneinander; ansonsten arbeitet die Inszenierung mit kargen, aber durchaus phantasievollen Theatermitteln.
Liebe und Loyalität zwischen den Figuren dieser Geschichte gibt es mit Ausnahme von Omas von Egoismen keineswegs freier Hinwendung zu Aminat kaum. Aber vielleicht ein wenig Wehmut, die die Regie mit einer hübschen Einstimmung des Publikums auf die Inszenierung eingebracht hat: Gleich nach dem Einlass in die Spielstätte besichtigen wir eine Ausstellung von „Rosalindas Memorabilia“. Wie im Museum defilieren wir an den Ausstellungsstücken vorbei: an Klamotten und Kaviar, einer Türpfostengirlande und einem Putzpokal, einer emigrierten Kaffeepfütze, einem untalentierten Nacktschneckenantrieb und manchem mehr. Später werden wir diese Ausstellungsstücke zu interpretieren wissen. Es sind lauter Hinweise auf das, was kommt – turbulent und traurig, amüsant und skurril, voller schwarzem Humor und großer Liebe zu eigenwilligen Figuren.