Faust in Spiegeln
Der Doktor blickt durch eine VR-Brille in die dritte Dimension. Was sieht er? Tut er einen Blick in die Zukunft? Ganz befriedigend scheint das Ergebnis jedenfalls nicht ausgefallen zu sein, denn Unzufriedenheit nagt gewaltig weiter an ihm.
Die neue Intendantin des Wolfgang Borchert-Theaters Tanja Weidner geht mit ihrer Eröffnungsinszenierung durchaus ein Wagnis ein: Metafaust. Der Pakt mit der Zukunft heißt ihr Projekt. Der Faust trifft auf KI. Und Weidner lässt den Text von Chat-GPT durchsehen und ergänzen. Dabei scheint der olle Goethe aber doch Vieles ganz gut gemacht zu haben, denn die Ergänzungen durch den Chatbot halten sich sehr in Grenzen. Überhaupt fließt Künstliche Intelligenz vor allem in den perfekt komponierten Videos von Tobias Bieseke und Jan Schulten ein, schafft hier trügerische, immer wieder zerfallende Bilder, die Realität, Traum und Wahn geschickt miteinander kombinieren: Was ist was und wann geschieht etwas wirklich, fragen sich Faust und das Publikum fortwährend.
Tanja Weidner geht es vor allem um einen ganz tiefen Blick in das Innere der Titelfigur. Und zu eben diesem trägt das ausgefeilte Videokonzept eine ganze Menge bei, wie auch die Spiegel, die Annette Wolf auf der Bühne platziert. Und so kann Gregor Eckert dem Faust nicht nur ein, sondern viele Gesichter geben. Multipolar ist dieser Faust, zerrissen und dennoch bisweilen geradezu beängstigend zielstrebig - ein Mensch, den nicht nur der Hunger nach Erkenntnis antreibt, sondern auch unbändige Lebensgier und der Wunsch nach materiellen Besitztümern. Diesen Fokus auf Faust spitzt Weidner auch dadurch zu, dass sie Szenen aus Faust II dazunimmt. Und auch die Beziehung zwischen Margarethe und Faust wird weitestgehend aus dessen Blickwinkel erzählt.
Niclas Kunder ist Versucher, Kumpan und Guide in die Zukunft gleichermaßen. Beweglich wie die Schlange im Paradies ist er als Mephistopheles quasi überall, taucht auf und verschwindet blitzschnell. Kunder ist androgyn, erotisch anziehend für Margarethe, durchaus aber auch für Faust. Das weiß er zu nutzen, um beide immer tiefer in den Fallstricken der amour fou zu verfangen. Stets mit gleichem süffisanten Ton verspritzt er süßes Gift, böse Wahrheit und gänzlich verdrehte Tatsachen. Hört man ihm länger zu, schwingt bisweilen der ein oder andere Ton mit, der an Gustaf Gründgens erinnert.
Katharina Hannappel ist eine selbstbewusste, kecke Margarethe, die durchaus weiß, was sie will. Sie wird aber durch Faust komplett aus ihrem Lebensgefüge gerissen. Die anderen Ensemble-Mitglieder stürzen sich spürbar mit Wonne und Lust am Detail auf die vielen anderen Rollen - inklusive des mickrigen Erdgeistes, den Meinhard Zanger gibt.
Zwei Stunden Faust, die auch dank der ausgeklügelten Komplexität von Weidners Konzept wie im Fluge vergehen. Aber auch zwei Stunden prallen Lebens, die diesen Goethe auch für „Faust-Anfänger:innen“ sehr attraktiv machen.