Umkehrung der Verhältnisse
Schwer ist leicht was, wusste Karl Valentin. Und in seinen Mini-Dramen, bei denen den Zuschauern das Lachen im Hals stecken blieb, hat der Wortdialektiker immer wieder die Richtigkeit dieses Ausspruchs bewiesen. Heutzutage besorgen dergleichen u.a. amerikanische Sitcoms. Wie diese im Bielefelder Theater am Alten Markt von Regisseur Dariusch Yazdkhasti.
Nancy (Carmen Priego) und Bill (Thomas Wolff), seit mehr als 50 Jahren verheiratet, leben seit einiger Zeit in der Residenz für betreutes Wohnen „Grand Horizons“ (so der Originaltitel dieses Dramas), deren Einrichtung einigermaßen trostlos ist. Im Lauf der Zeit haben sich bei dem Paar Rituale eingeschlichen. Die Vorstellung beginnt mit dem Abendessensritual. Nancy und Bill trotten mit Bettregalen zu ihren extrabreiten Sesseln, setzen sich und beginnen zu essen. Sie dezent leise, wenn sie ihr Brot schneidet. Er ruckelt und quietscht hörbar mit dem Messer auf dem Teller hin und her, um sein Brot klein zu kriegen. Das geht eine ganze Weile so, dann unterbricht Nancy die ansonsten stille Abendszene mit einem markanten Satz: „Ich glaube, ich möchte die Scheidung.“ Bill braucht, bis er den Satz realisiert hat. Dann antwortet er: „Alles klar“ und isst weiter.Schon klar, nichts ist klar. Hier zeigt sich erstmals Nancys differenzierte Redeweise, während Bill, sprachlich auch sehr gewandt, doch eher mit dem Degen ficht.
Aber das Paar bleibt mit seinem Problem nicht lange allein. Es erscheint Brian (Faris Yüzbasioglu), jüngerer Sohn und Kümmerer. Und auch nicht ohne Probleme. Er arbeitet aktuell als Lehrer gerade an einer Inszenierung in seiner Schule mit 200 Kindern. Am meisten Pein bereitet ihm die Tatsache, dass er nicht alle 200 Kinder mit einer Hauptrolle beglücken kann. Dabei sieht er vor seinem inneren Auge immer die leuchtenden Augen der Kinder, wenn er mit ihnen arbeitet. Der Scheidungswunsch seiner Mutter ist ihm überhaupt nicht recht. Eine weitere Zurückweisung. Im weiteren Verlauf des Abends stellt sich noch heraus: Brian ist schwul, was er vor seinen Eltern zu verheimlichen versucht. Und ein Geliebter (Alexander Stürmer), der ihn just in dieser Situation besucht, verzichtet angesichts des Desasters auf die weitere Beziehung.
Der ältere Bruder Ben (Georg Böhm) wirkt wie das pure Gegenteil von Brian: Verheiratet, erfolgreich, das erste Kind ist unterwegs. Er wusste schon länger vom Scheidungswunsch der Mutter. Und er hat ihr auch schon ein wenig geholfen zu ihrem Neustart. Ein Ekzem auf der rechten Hand freilich verweist auf Dauerstress und ein dünnes Nervenkostüm. Was er gern hervorhebt: Er ist derjenige, der für alles zahlt.
Allein der Streit der Brüder wäre schon eine Sitcom für sich allein, denn die Art und Weise wie sie sich beharken, Recht haben wollen, ist großartig dargestellt. Aber eigentlich geht es ja nicht um sie. Die Eltern sollten eigentlich im Mittelpunkt stehen.
Bill hat dafür in der Anfangsszene eine große Chance, die er reichlich nutzt. Und grandios vergeigt. In seiner Freizeit übt er sich als Standup-Comedian. Also gibt er einen Witz zum Besten, den er erst neulich versucht hat einzustudieren. Geht natürlich schief, weil ihm die Pointe nicht mehr so recht einfallen will. Aber Thomas Wolff zeigt hier einmal mehr seine hohe Schauspielkunst. Der in sich dreigeteilte Witz wird sorgfältig auf die Pointe hingearbeitet, die zwar ausfällt, was aber eben dann zur Pointe mutiert. Der alternde Comedian ist nicht mehr textsicher. Aber das Publikum ist begeistert über Bens Unfähigkeit, seinen Witz zu Ende zu bringen. Der nicht stubenreine Witz über eine Gruppe von Nonnen, die Einlass in den Himmel begehren, erzählt auch gleich etwas über die unterschiedlichen Auffassungen des Ehepaares über den Umgang mit Sprache. Das wird vor allem deutlich, als Nancy ausgerechnet Brian die Geschichte ihres lustvollsten sexuellen Erlebnisses erzählt. Carmen Priego schildert, sichtlich erregt von der Erinnerung, in einem sorgfältig aufgebauten Monolog von einer Erfahrung, die ihr danach nie wieder zu Teil wurde. Im Gegensatz zu ihrem Mann bringt sie ihren Part in aller Drastik textsicher zu Ende. Zwischenapplaus und höllisches Gelächter. Brian wiederum wird von der Erkenntnis gebeutelt, dass seine Mutter ein Sexualleben hatte. Im Übrigen wusste Nancy sowieso von Bills Seitensprung. Carla (Christina Huckle) hat eine einzige, dafür aber sehr eindrückliche Begegnung mit Nancy. Die gipfelt im Austausch von Masturbationspraktiken und zeigt einmal mehr, wem die Autorin Bess Wohl hier das größere Verständnis widmet. Das Gespräch mit der Rivalin zeigt Carla, dass Bill wohl doch nur ein Schaumschläger ist. Sie zieht sich gern zurück. Im Gegenzug wusste Bill auch von Nancys Seitensprung. Oder zumindest tut er so. Aber das hilft nicht. Mannhaft entschließt er sich auszuziehen, packt den Möbelwagen und fährt ihn mit Volldampf gegen die Wand. Das ändert die Situation vollkommen. Zurück aus dem Krankenhaus, ist er pflegebedürftig.
Interessant ist die Umkehrung der Verhältnisse. Die Söhne entpuppen sich als Helikopter-Kinder. Der eine - Brian - will nicht wahrhaben, dass die Eltern trotz intensiver Betreuung schon ziemlich lang aneinander vorbeileben; Ben hat derweil seiner Mutter schon mal geholfen, via Airbnb zunächst mal eine vorübergehende neue Bleibe zu finden. Und Bens hochschwangere Ehefrau Jess (Elena Berthold), die zunächst völlig irritiert ist, ergreift letztendlich Partei für die Schwiegermutter. Zu guter Letzt gehen die Kinder wieder ihrer Wege, die Eltern sitzen verlegen lächelnd in ihren Sesseln.
Großer Jubel und fast nicht enden wollender Beifall für eine rundum gelungene schwere Arbeit, die leicht daher kam.