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Die Wut, die bleibt im Theater am Alten MarktBielefeld

Wie Trauer in Wut umschlagen kann

In der letzten Spielzeit gab es im Bielefelder Theater am Alten Markt ein Drama über den Überlebenskampf einer alleinerziehenden Frau mit drei Kindern (Die Alleinunterhalterin) zu sehen. Ging es bei dem Auftragsstück des Bielefelder Theaters letztes Jahr um die eher großen und kleinen Nöte, die humorvoll erzählt wurden, geht es diesmal um die großen Nöte einer Familie, der das Rückgrat gebrochen wurde.

In Die Wut, die bleibt - schon der Titel verrät, dass es diesmal nicht humorvoll wird - steht Johannes (Lukas Graser) fassungslos vor der Katastrophe, dass sich seine Frau Helene (Brit Dehler) aus dem Fenster gestürzt hat. Dabei hatte er doch beim Abendessen bloß die harmlose Frage gestellt, wo denn das Salz bleibe. Sarah (Nicole Lippold) kommt grad zur Tür herein, um der trauernden Familie einen selbstgebackenen Kuchen vorbeizubringen. Was man auch schon als Übersprungshandlung verstehen kann. Aber nun setzt ein Automatismus ein, der darin gipfelt, dass Sarah die Mutterrolle einnimmt. Den eher starken Druck des Vaters der drei Kinder Lola (Ronja Oehler), Maxi und Lucius, sich bitte mal kurz um die Kinder zu kümmern, er habe doch schließlich Beruf und Termindruck, akzeptiert Sarah automatisch. Motto: Man muss doch helfen. Und ehe sich Sarah es versieht, hat sie neben dem Katastrophenhaushalt in der Nachbarschaft auch ihren eigenen Haushalt mit - wie sich herausstellt - dem nicht ganz problemlosen Lebensgefährten Leon (Simon Heinle) an der Backe.

Hauptleidtragende des Familiendramas ist Lola, 15 Jahre alt und ebenso ratlos wie alle andern in diesem Geschehen. In Sunny (Lara Hofmann), Alva (Clara Fenchel) und Femme (Leona Grundig) hat Lola freilich eine Gruppe, die sie auffängt. Zusammen leben sie, streiten sie, kämpfen sie. Und wie. Das geht nicht immer reibungslos, denn da sind Männer, gegen die sich verteidigen, die sie dann angreifen, da ist der Streit mit der Ersatzmutter um Pubertätsprobleme. Und bei all dem taucht der Vater nur auf, wenn er mal wieder Terminprobleme hat und dringend Sarah als Notnagel braucht. Doch eines Tages geht Sarah auf, was sie da mehr oder weniger unbewusst und automatisch macht: sie besorgt ihrem Nachbarn mit drei Kindern den Haushalt, vernachlässigt dabei ihren eigenen. Und nicht nur den physischen, auch ihren seelischen Haushalt vernachlässigt sie. Das wird ihr klar in Gesprächen mit Helene, die als silbrig gekleidetes Wesen immer wieder die Szene begleitet. Sie ist Sarahs Über-Ich. Durch Helene versteht Sarah, wie es zu dem Selbstmord gekommen ist, durch Helene versteht Sarah spät aber doch ihre eigene Situation. Und sie stellt Johannes vor die Tatsache, dass sie ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zur Verfügung steht als Ersatzmutter. Kipppunkt ist die Szene, in der Sarah mit dem umherliegenden Spielzeug der nicht anwesenden Kinder Maxi und Lucius so beladen wird, dass sie nicht mehr über den in ihren Armen liegenden Berg von Gegenständen hinwegblicken kann.

Diskussionen sowohl mit Johannes als auch mit Leon enden oft mit gegenseitigen Vorwürfen. Beide Herren erweisen sich als einfältige, aber keineswegs denunzierte Exemplare der Gattung Mann, denen vor allem ihr Leben und Treiben, sei es im Beruf (bei Johannes) oder in der Freizeit (bei Leon) wichtig ist. Das übrige Leben, also auch das Sarahs ist ihnen gleichgültig. Für Sarahs Probleme fehlt ihnen jegliches Verständnis.

Zentral ist der Regisseurin Christina Gegenbauer die Entwicklung von Lola und ihren Freundinnen. Mit Gianni Cuccaro wurde eine Choreografie erarbeitet, die den Kampf um Selbstbewusstsein und Selbstbehauptung sehenswert und kraftvoll bebildert. Zugleich hat Personal-Trainerin Sandra Lange mit den Agierenden in dem offenen Bühnenbild von Ulrich Leitner einen atemberaubenden und wechselhaften Parcours gearbeitet, der den Läuferinnen alles abverlangt. Zusammen mit der von Nikolaj Efendi ausgesuchten Musik bestimmten die immer intensiver werdenden Tanzszenen den Abend. Er endete völlig berechtigt in frenetischem Jubel.