Übrigens …

Dark Matter im Tonhalle Düsseldorf

Die Dunkle Materie als Big Bang der Liebe und Erkenntnis

Auf der Breite der Bühne entsteht ein Tafelbild von angedeuteten physikalischen Formeln - immer dichter und chaotischer, bis allmählich Strukturen erkennbar werden. Wer mag sie verstehen? Möglicherweise Synapsen im Kopf der Protagonistin des Abends?

Für einen Moment wird’s ganz dunkel im Saal: Dark Matter beginnt. Dann nehmen die Musiker auf der Bühne Platz: links am Flügel Alina Bercu mit Egor Grechishnikov, rechts Christoph Schneider (Klarinette) und Nikolaus Trieb (Violoncello), alles exzellente Solisten, die sich zu dieser grandiosen Komposition des Komponisten und Astrophysikers Bojan Vuletic zusammengefunden haben. Die Bühnenmitte bleibt frei für die Schauspielerin Vidina Popov, die in einem virtuosen Monolog als Nogaeinen „Urknall“ der Liebe und Erkenntnis darstellen wird (Text: Shlomo Moskovitz, ein israelischer Dramatiker, der schon mehrfach mit Vuletic zusammenarbeitete).

Im Hintergrund erscheint inzwischen das Bild einer angedeuteten chilenischen Wüstenlandschaft mit dem Atacama Cosmology Telescop, einem Observatorium in einer Höhe von 5148 Metern am Cerro Toco, in dem die junge israelische Astronomin Noga die Schwarzen Löcher, will heißen die versteckte Energie der Dunklen Materie, erforschen will, doch mitten in ihrer wissenschaftlichen Arbeit in ein dramatisches Liebesgeschehen gezogen wird.

Nach einem virtuosen musikalischen Vorspiel erscheint Noga, spricht einen Text, den sie gerade als Mail in ein virtuelles Gerät tippt: „Atacama, 8. Oktober 2023“ hören wir. Teilweise wird der Text auf der Rückwand kurz eingeblendet. Wir erfahren außer Ort und Zeit von ihrem Vorhaben, „das nicht Sichtbare zu beobachten“. Dabei beginnen sich ihre Imaginationen zu überlagern, das System ihrer diversen Vorstellungen treibt sie schließlich in einen Tagtraum.

Dabei ist die Sprache des kunstvollen Monologs, der kurz auch mal in Gesang übergeht, von Vuletic und Moskovitz als „Teil der Partitur und als eigenständiges Instrument gesetzt.“ Hinzu kommt, dass durch die Anordnung der Instrumente auf der Bühne die Stimme der Schauspielerin im perspektivischen Fluchtpunkt steht. Zudem schaffen die rasanten Projektionen (Visualisierung: Dietgard Brandenburg) auf Hinterwand und Bühnenboden immer neue Räume, Assoziationen und Situationen. Zwischen abstrakten Lichtspielen stellen sie die Sprecherin mal unter einen Sternenhimmel, mal in ein Flugzeug, an eine Bushaltestelle oder in ein Tunnelsystem.

Noga greift zum imaginären Telefon, im Hintergrund tauchen brutale rote Striche auf, die sich auf die Sprecherin konzentrieren, sie umrunden. Sie ruft nach Na’ma, der Liebe ihres Lebens, die sie nicht erreicht, die irgendwo in Israel verschwunden ist. „Wir haben unser Doppelsternsystem geschaffen und jetzt ist ein Stern abwesend. Ich werde in die Lücke hineingezogen!“ klagt sie. Dann bricht es auf Hebräisch aus ihr heraus, der Sprache ihrer Wurzeln und sie wälzt sich in rasendem Schmerz am Boden.

Es ist ein Tag nach dem Terrorangriff. Der Big Bang explodiert wie im Bild, so in Nogas Leben. Die Musik bäumt sich auf, verliert sich im Chaos, scheint zu improvisieren. Noga stürzt sich in die Suche nach ihrer Freundin, macht sich auf nach Israel.

Noga beschwört ihre Liebe, führt die Synapsen in ihrem Kopf zusammen. Wissenschaft und Liebe verschmelzen. „Die Kraft der Dunklen Materie ist so groß, dass alle Masse in einen Punkt zusammengezogen werden kann. Und durch Liebe können wir eins werden.“ Noga sinnt dem Big Bang in ihrem „Kopfuniversum“ nach und konstatiert: „Die gesamte Materie und unsere Seelen wirbeln und tanzen in einem ausgelassenen Chaos! Mit unendlicher Leidenschaft zu zerstören und zu erschaffen.“ Sie beschließt, ihre „Gedanken in eine Handlung umzuwandeln.“ Das Quartett spielt kraftvoll auf. Begleitet sie auf ihrer Reise per Bus und Flugzeug bis zur Landung in Tel Aviv.

Nach der Landung bricht es zu einem harten Staccato aus Noga heraus: „Der Terror. Die Mörder. Die Verschleppten. Das Massaker. Der Horror. Der Krieg.“ Sie macht sich auf die Suche nach der Liebe ihres Lebens. „Die Liebe hat mich auf diese Erde zurückgebracht“, ruft sie und findet Na’ama tatsächlich versteckt in einem Baumhaus im Kibbuz, aus dem ihr letztes Lebenszeichen kam.

Nach einem grandiosen Violin-Solo endet Dark Matter ein wenig überraschend mit einem hoffnungsvollen Blick der beiden Liebenden in eine gemeinsame Zukunft.

Für einen musikalisch und gedanklich anspruchsvollen Abend - in mitreißender Virtuosität dargeboten - bedankt sich das Publikum mit starkem Applaus.

Im Programmheft wird darauf verwiesen, dass Terror und Krieg zwar Auslöser, nicht aber Gegenstand der Komposition sind. Dabei sei es nicht von ungefähr, dass Bojan Vuletic für Dark Matter die gleiche Besetzung wählte wie Olivier Messiaen 1940 als Kriegsgefangener (im Gefangenenlager Stalag VIII-A in Görlitz) für sein Quatuor pour la fin du temps (Quartett für das Ende der Zeit).