Barbie wird erwachsen
Weiße Wolken am blauen Himmel, fast unwirklich schön. Ein Vogelschwarm zieht krächzend vorüber. „Meine Lerche“, ruft Torvald Helmer seine Frau. Mein Singvögelchen, mein Eichhörnchen, meine Naschkatze. Puppchen, du bist mein Augenstern…
All diese Kosenamen fallen schon, bevor sich der Wolkenvorhang hebt. Ein Schiebemechanismus im Wolkenbild gibt einen Blick in das „Puppenheim“ frei, wie Henrik Ibsen sein Stück im Untertitel genannt hat. Regisseur Felix Krakau hat diesen Titel in seiner Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus ernst genommen. Die Guckkastenbühne hat die Form eines Marionetten- oder Kasperle-Theaters; wie Puppen sind die Schauspielerinnen und Schauspieler gekleidet und geschminkt. Caroline Cousins Outfit gibt die Richtung vor: Die Schauspielerin gibt die Nora ein wenig zu laut, ansonsten aber als perfekte pinke Barbiefigur. Ihr Ken ist Sebastian Tessenow als Torvald, ein schnieker Direktor der Aktienbank im schwarz glänzenden Anzug aus Leder-Imitat, zu dem er eine schreiend rote Krawatte trägt. Nett geht er mit seinem Weibchen um, macht auf verliebt und bleibt doch stets unverbindlich. Augenhöhe stellt er zum Eichhörnchen nicht her. Eine tolle Type ist Kilian Ponert als Rechtsanwalt Krogstad: Er, der ehemalige Betrüger und Versager, will wieder nach oben. Wie zum Beweis rennt er beflissen mit zwei Aktentaschen unter dem Arm herum und sorgt allein durch seine optischen und gestischen Gimmicks für Lacher im Publikum. Der Mann ist eine Witzfigur - und doch ist es ausgerechnet Ponerts Krogstad, der einen winzigen Moment lang so etwas wie fröstelnd machende Gefährlichkeit ausstrahlt, als er Nora mit seinem Wissen um ihre vor Jahren begangene Unterschriftenfälschung konfrontiert und Puppchen in die Enge treibt. Wie hatte Nora zu Beginn zu Frau Linde gesagt: Dass sie es gewesen sei, die das Geld für die für Torvald lebensrettende Reise nach Italien aufgetrieben habe, habe sie ihrem Mann nie erzählt. So habe sie „für den Fall der Fälle“ noch etwas in der Hinterhand. Jetzt muss sie erkennen: Das Blatt, das Krogstad in der Hand hält, ist besser.
Passend zu den Kostümen und Frisuren wirken auch die gezierten, ungelenken Bewegungen der Akteure, die in Cousins und Tessenows expressivem Tarantella-Tanz einen witzig-ironischen Höhepunkt erreichen, marionettenhaft. Beim Rezensenten weckte Tessenows Spiel Erinnerungen an seine Mitwirkung in der mehr als acht Jahre alten Inszenierung von Wolfgang Hölls „Drei sind wir“ am Schauspiel Leipzig: Auch dort agierte er wie jetzt in Düsseldorf in einer formbewussten Inszenierung mit stilisierten Bewegungen innerhalb eines hermetischen, unmöblierten Guckkastens. Während damals aber die Not und die Aussichtslosigkeit einer gemeinsames Leid erduldenden Familie visualisiert wurde, strahlen die Figuren in Krakaus Ibsen-Inszenierung zunächst eine süßlich harmonisierende Oberflächlichkeit aus. Virtuos beherrscht vor allem die Schauspielschülerin Luise Zieger als Frau Linde das puppenhafte Bewegungsrepertoire, so dass man bedauert, dass ausgerechnet diese Rolle stark eingekürzt wurde. Joscha Baltha als todkranker Dr. Rank schafft es, trotz all dieser künstlichen Spielweise Betroffenheit im Publikum auszulösen, als er - im Clowns-Kostüm, scheinbar bestens gelaunt und von Torvald fundamental missverstanden - die verschlüsselte Nachricht von seinem bevorstehenden Ableben überbringt. Sprachlich wird anfangs permanent auf die Tube gedrückt: So wie die Bewegungen unnatürlich sind, ist es auch das Tempo, das die Schauspielerinnen und Schauspieler beim Sprechen anschlagen.
Noras Puppenheim wird von dem grandiosen Video- und Lichtdesigner Florian Schaumberger in wechselnde, meist kitschig-barbiehafte oder bonbonfarbene Pastelltöne getaucht. Im Laufe der Aufführung haben wir alle Farben des Pop-Universums gesehen. Das ist das, was hängen bleiben wird von dieser Inszenierung, denn es entstehen wunderschöne (natürlich ironische) Bilder. Von fern erinnern sie an die an die Farbtafel-Malerei von Mark Rothko, allerdings sind sie gestochen scharf konturiert. Die Wolkenbilder dagegen geraten in Bewegung. Noch bevor Nora sich zu emanzipieren beginnt, wird die Ehe durch alten Betrug und neue Erpressung bedroht. Da toben plötzlich Sturmwolken am Himmel und färben sich rot. Es herrscht Alarm.
Worauf Stück und Inszenierung hinaus wollen, ist von der ersten Minute an sonnenklar: Die vielleicht heute noch in finsteren Ecken der Gesellschaft vorhandene patriarchalische Struktur und das Hierarchiegefälle zwischen Mann und Frau werden aufgezeigt. Doch im erwähnten Tarantella-Tanz deuten sich bereits erste Widerstände bei Nora an: Nein, sie tanzt keineswegs schlecht, wie Torvald ihr vorwirft, sondern sie wehrt sich gegen die Vereinnahmung durch ihren Mann. Und siehe da: Die geradezu aggressiv anmutenden boxenden Bewegungen, die sie ihrem Tanz hinzufügt, passen viel besser zu ihrem manchmal lauten Auftreten als pinke Barbie-Kleidchen. Bald nun wird Nora selbstbestimmt zu handeln beginnen. Und prompt lässt das puppenhafte Gehabe nach.
Leider nimmt damit allerdings die Strahlkraft der vor allem von ihren visuellen Effekten lebenden Inszenierung ab. Noras Abrechnung mit Torvald gerät langatmig und uninspiriert. Aber dann fliegt noch einmal ein Vogelschwarm über den nun wieder blauen Himmel. Ein einziger Vogel löst sich aus dem Schwarm, kehrt um und fliegt in eine andere Richtung. Singvögelchen ist erwachsen geworden.