Zerbrochner Krug im Kolonialreich
Der Huisumer Fenstersturz muss ziemlich halsbrecherisch gewesen sein. Furchtbar zerschunden steht Dorfrichter Adam vor uns; sein Körper weist an allen möglichen und unmöglichen Stellen Verwundungen, Kratz- und Schürfspuren auf. Wie ein Kainsmal wirkt die rote Katsche an Adams rechter Schläfe. Im offenen Bademantel wankt der Richter auf der Stelle, links barfüßig, rechts auf einem Schuh balancierend, dessen Abdruck im Huisumer Schnee Frau Brigitte später mit gewissem Recht als des Teufels Klumpfuß beschreiben wird. Adam summt (oder besser: lallt) merkwürdige Melodien, etwas disharmonisch begleitet von dem Musiker Kornelius Heidebrecht, der gleichzeitig den undurchsichtigen, vermutlich nur scheinbar etwas blöden Schreiber Licht spielt. „Ihr wisst, wie sich zwei Hände waschen können?“, versucht Adam den Licht zu korrumpieren. Der lässt ihn ohne Antwort zappeln. Abwarten und mal schauen, was sich am Ende als karriereförderlich erweist, wird er sich denken.
Ein Video zeigt Bilder eines Feuer und Asche spuckenden Vulkans. Es soll den Ausbruch des Tambora im Jahre 1815 darstellen. Die Eruption des Tambora auf der indonesischen Insel Sumatra gilt bis heute als der größte Vulkanausbruch in der Geschichte der Menschheit. Er zog verheerende globale Folgen nach sich: In Europa fiel ein ganzer Sommer aus. - Adams Gesang wird nun konturierter: David Bowies „Rock‘ Roll Suicide erklingt - das Lied, das vom Scheitern eines Mannes aufgrund seines sexuell allzu promiskuitiven Lebenswandels erzählt. Spätestens jetzt wird es Zeit, den Blick einmal auf die unauffällig im rechten Bühnen-Hintergrund sitzende Marie Schulte-Werning zu richten, die die Eve gibt. „Er selber war’s“, flüstert sie nicht zum ersten Mal - vernehmlich, beschwörend: „Der dort, der Unverschämte, der dort singt, er selber war’s!“ Eve, die bei Kleist erst gegen Ende seiner „Komödie“ ihren Auftritt hat, ist im Theater an der Ruhr in Mülheim nahezu durchgehend präsent, unauffällig, aber wie das personifizierte schlechte Gewissen des Dorfrichters. „Er selber war’s“ - der Vorwurf, die Anklage dringt ein in Adams Hirn, der ganz kirre wird und noch stärker außer Façon gerät als er ohnehin schon ist. Angstvorstellungen, dunkle Vorahnungen scheinen sich Adams zu bemächtigen. Adam hat Eve in der vergangenen Nacht sexuell missbraucht, zumindest den aggressiven Versuch dazu gestartet. Bei der Flucht nach dem letztlich gescheiterten erotischen Abenteuer hat er den Krug zerbrochen und sich all die Verletzungen zugezogen. Aber ob er angesichts dieser Missetat auch als Hüter des Rechts scheitern wird, ist noch lange nicht ausgemacht.
Denn auch der Gerichtsrat Walter, der als eine Art Supervisor von der übergeordneten Behörde in Utrecht in die verkommene Idylle des Huisumer Rechtswesens einfällt und eigentlich die Aufgaben einer Internen Revision übernehmen sollte, hat eine Katsche auf der Schläfe - links sitzt sie statt rechts, ansonsten ist sie ein perfektes Spiegelbild der Adam’schen Verletzung. Adam und Walter sind Brüder im Geiste: korrupt, unehrlich, moralisch alles andere als integer. Natürlich entdeckt Walter schnell, wes Geistes Kind er mit Richter Adam vor sich hat; schnell erkennt er dessen fachliche Mängel und dessen bewusste Rechtsbeugungen. Aber am Ende wird keine adäquate Bestrafung Adams erfolgen - nicht einmal eine echte Überführung. Es ist etwas faul in den Provinzen der Niederlande. Und genau darauf legt Philipp Preuss den gedanklichen Schwerpunkt seiner Inszenierung. Der indonesische Vulkan, der es in Mülheim sogar in den Titel der Aufführung geschafft hat, dient als Sinnbild dafür.
Kleists Drama spielt im Gerichtssaal. Aber während der gesamten Handlung prangt das Logo der Vereenigte Oostindische Compagnie über der Szene. Die VOC, Monopolist im Ostindien-Handel, durfte ab Anfang des 17. Jahrhunderts in den niederländischen Kolonien Soldaten anwerben, militärische Einrichtungen aufbauen, im Namen des Staates Verträge schließen - und Recht sprechen. Bilder von den Zuständen im Kolonialreich werden immer wieder eingespielt: Videos von versklavten, hart arbeitenden Einheimischen auf indonesischen Tee- oder Tabakplantagen werden gegengeschnitten mit Werbeclips für Van Nelle’s Gebroken Thee, Javaanse Jongens Tabak oder Droste Cacao, in denen die Schauspielerinnen und Schauspieler der Inszenierung als genussorientierte Herrenmenschen auftreten: die teetrinkende feiste niederländische Matrone gleicht aufs Haar der Marthe Rull von Gabriella Weber, und Fabio Menendez‘ Gerichtsrat Walter und Felix Römers Dorfrichter Adam graben sich auf einem Video wie Zwillinge grinsend einen Weg durch ein Meer von Erdnüssen. Mit den Praktiken der VOC hat Adam die junge Eve erpresst: Ihr Verlobter Ruprecht werde zur Miliz eingezogen und nach Batavia verschifft, wo der sichere Tod auf ihn warte, droht Adam und untermauert seine Aussage mit einem dubiosen Brief, dessen Echtheit bis heute nicht erwiesen ist. Adam könne Ruprecht vor einer Verschiffung in die Kolonien bewahren. Aber dafür müsse Eve ihn in ihre Kammer einlassen...
Historisch ist eine solche Rekrutierung männlicher Landeier glaubhaft, auch und gerade, dass sie auf Wunsch der VOC stattgefunden hat. Philipp Preuss lässt in Mülheim die ursprüngliche, härtere Fassung von Kleists Drama, den sog. „Variant“, spielen, der bei der Uraufführung im Jahre 1808 durchfiel und lange Zeit durch einen versöhnlicheren Schluss ersetzt wurde, der Eve und Ruprecht zusammenführt und dem jungen Mann die Kolonialverschickung erspart. Am Theater an der Ruhr bleibt das Ende offen. Ob man Walter glauben kann, der die Absicht zur Rekrutierung von Milizen für die Kolonien abstreitet, bleibt zumindest zweifelhaft. Stattdessen wird auch Walter sexuell übergriffig - auf eine Weise, gegen die die Kussattacke des ehemaligen Chefs des spanischen Fußballverbands Luis Rubiales gegen seine frisch gebackene Weltmeisterin Jenni Hermoso als Kinkerlitzchen erscheint.
Philipp Preuss inszeniert mit viel Witz und höchst ironischen Figuren-Interpretationen. Felix Römer spielt den Dorfrichter Adam grandios - auch grandios komisch, so hemmungslos wie er seine Rolle als verkommenes Rechtspflege-Organ überzieht. Ohne Körperspannung tritt er auf - und verleiht seiner Figur gerade dadurch Charakter. Hinreißend ist der Auftritt von Dagmar Geppert als Frau Brigitte, die den Teufel nicht nur gesehen haben will, sondern gleich selbst als leibhaftiger Gottseibeiuns aus einer Nebelwolke auftritt und dann in temperamentvollem Niederländisch zur Überführung des Dorfrichters schreitet. Als Krönung holt sie die verloren gegangene Perücke des Richters unter ihrem Rock hervor, wo sie wie ein wucherndes Schamhaar-Feld ein klandestines Dasein gefristet hatte. Aber nicht nur komödiantisch ist diese Inszenierung, sondern auch in hohem Maße sprach- und formbewusst: Wortspiele amüsieren, und häufig arbeitet Preuss mit dem Mittel der Wiederholungen. Eves „Er selber war’s“ ist nur das auffälligste Beispiel für sprachliche Reprisen, die der Aufführung Struktur geben und Rhythmus verleihen. Die Bilder aus den Kolonien werden nicht nur auf die Bühnenwände projiziert, sondern auch auf die extrabreiten Stehkragen der sich zu einer homogenen Gruppe aufstellenden Schauspieler: Da sind dann Adam und Walter, Ruprecht und Licht und auch die Marthe Rull vereint in einem einzigen kolonialen Bild und es scheint, als steckten sie alle unter einer Decke. Nur Eve trägt einen feminineren, kleineren Kragen und beteiligt sich nicht an dieser niederländischen Weltverschwörung.
Auch die Inszenierung von Preuss bietet zwei alternative Enden an. Der Kleist’sche Variant ist diesmal die mildere Version. Der Preuss’sche Variant ist tödlich. Eve erschießt alle, ausnahmslos - auch das Publikum. Dann wird die Szene zurückgedreht. Die ganze niederländische Mischpoke wird überleben. Adam wird versetzt, auf einen anderen Posten, auf dem er weiter Unheil anrichten kann. Eve und Ruprecht stehen im Hintergrund, debil lächelnd. Und wenn man fragt, wer denn sterben muss? Ist Ruprecht sicher? Man weiß es nicht. Aber wenn sein Kopf fällt, werden alle sagen: Hoppla…