Träume von Samt und Seide
Kriegswichtige Güter aus dem Ruhrgebiet - da denkt man an Stahl und Eisen, an Krupp, an deutsche Soldaten, flinkzähhart. Nora Bossong, im Jahre 2023 „Metropolenschreiberin Ruhr“, stieß auf andere, wohl auch für die meisten Ruhrpott-Bewohner überraschende Zusammenhänge: In Gelsenkirchen wurden für den Krieg und für den Sieg der arischen Rasse ab dem Jahre 1936 Seidenraupen gezüchtet. 1936 hieß der Zweck natürlich anders: Damals, als Krupp „keine Waffen mehr produzieren (wollte), sondern nur noch Kettenfahrzeuge“, ging es offiziell um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Erlangung einer größeren Unabhängigkeit von den asiatischen Staaten bei der Produktion von Seide. Tatsächlich gab es auch damals schon Dekarbonisierung; mit dem Bergbau ging’s bergab, und die Stadt begann, die Seidenraupenzucht finanziell zu fördern. Auf ungenutztem Land, das Bürgerinnen und Bürgern unentgeltlich für die Gartenarbeit oder Ähnliches zur Verfügung gestellt wurde (sogenanntem „Grabeland“), ließ die NS-Stadtverwaltung Maulbeerbäume pflanzen. Zwischen Hassel und Buer wurde eine Großzuchtanlage für 500.000 Seidenraupen errichtet. Bloß: Warum brauchte man eigentlich in Nazi-Deutschland eine Autarkie bei der Produktion von Seide? - Vielleicht war die Stadtverwaltung Gelsenkirchen ja vorausschauender als man denkt, vielleicht auch eingeweiht in größere Pläne. Seide benötigt man für Fallschirme. Und die sind kriegswichtig. Ganz bestimmt sollten sie nicht aus der Produktion des Feindes stammen.
Nora Bossong, erfolgreiche Autorin von Romanen, Lyrik und politischen Texten, fand in dieser Konstellation den Stoff für ihr erstes Theaterstück, das jetzt am Theater Oberhausen uraufgeführt wurde. Die großen politischen Vorgänge im Reich (und später im Krieg) geben den Hintergrund ab für die Geschichte einer… nennen wir es: Kleinfamilie aus Ehefrau, Ehemann und Liebhaber. - Schorsch und Gustav sind Kohle-Kumpel, werden, wie Schorsch meint, früh an der Staublunge sterben und niemals zu Reichtümern kommen. Sie stammen aus einfachsten Verhältnissen („Mein Vater hat den Schlag bekommen und meine Mutter Kinder“). Aber sie haben bereits vor 1936 eine kleine Seidenraupenzucht. Mit der Förderung durch die Stadt ist ein besseres Leben nah. - Nazis sind sie alle drei: Am fanatischsten erscheint Lottes Liebhaber und Schorschs Freund Gustav, von Philipp Quest mit stechendem Blick und glühenden Augen überzeugend gespielt. Eher ein Jammerlappen, aber auch ein Träumer ist Schorsch (David Lau): Er träumt von Paris, wo er seine Frau (Simin Soraya) mit Kleidern aus Seide verwöhnen möchte, versenkt aber seinen Lohn im Alkohol, um seine geliebte Lotte anschließend zu Hause zu misshandeln. Die ist unglücklich, tröstet sich ab und zu mit Gustav und wird nach vielen kinderlosen Jahren schwanger. Vielleicht liegt es ja an dem Unglück, das sie in ihrem Leben erfährt, dass sie für Heilsversprechen wenig empfänglich ist: Lotte ist die Skeptische, die zwar an den Aufschwung des Tausendjährigen Reichs glauben möchte, aber von inneren Stimmen und von dunklen Träumen zurückgehalten wird. Nicht alle Fallschirme funktionieren. Lotte weiß das, sie hat einen Jungen vom Himmel fallen sehen. Ob im Traum oder in der Realität? Es bleibt in Nora Bossings Stück offen.
Die Ausstatterin Franziska Isensee hat für die Inszenierung einen großen Setzkasten gebaut, der abwechselnd die Wohnung der Protagonisten und die „Rauperei auf Grabeland“ darstellt und in dem sich die drei Protagonisten nur gebückt, kriechend, rollend oder robbend bewegen können. Zu Beginn ist die rechte Hälfte des Setzkastens von einem großen Tuch bedeckt - einem Tuch aus Fallschirmseide, auf das per Video die krabbelnden Raupen projiziert werden. Die beengten Lebensverhältnisse von Lotte, Schorsch und Gustav werden deutlich. Mangelnden Bewegungsspielraum haben sie auch im finanziellen, im beruflichen und im gesellschaftlichen Bereich. Die Raupen erweisen sich als Hoffnungsträger: Nach und nach verbessert sich die Lebenssituation der drei. Das Fallschirmtuch fällt herab; einzelne Bretter werden aus dem Setzkasten herausgenommen, so dass die Figuren endlich aufrecht stehen können und Gustav die zackige Haltung eines nationalsozialistischen Muster-Mannes ermöglicht wird. Irgendwann fällt auch die Rückwand des Kastens, was den Raum für die drei Kriegsgewinnler erweitert, sie aber auch sichtbarer macht: Grelle Scheinwerfer wirken eher bedrohlich. Tatsächlich wird das Glück der drei nicht andauern. Gustav, der bald in den Krieg zieht, springt irgendwann vom Himmel. In Fallschirmseide. Wir wissen ja, nicht alle Fallschirme öffnen sich.
Wenn der Setzkasten mehr Räume freigibt, mag das vorübergehend für die Figuren des Stücks erleichternd sein und ihren finanziellen Erfolg dokumentieren. Tatsächlich können Lotte und Schorsch ein größeres Haus kaufen - zum Schleuderpreis von einer jüdischen Familie, die zur Emigration gezwungen ist. Für das Publikum hat der größere Raum einen Nachteil: Die ohnehin nicht allzu brillante Akustik in dem nackten Studio des Theaters Oberhausen wird schlechter, und viele Sätze aus Bossongs Stück werden vom Raum oder vom Widerhall der nackten Wände verschluckt. Das ist schade, denn Bossong hat eine eigenwillige, zwischen Poesie und Alltag mäandernde Sprache entwickelt, der man gerne zuhört. Ab und zu wird ein Satz aus dem „Fliegenden Robert“ aus der Struwwelpeter-Sammlung zitiert; mal fällt ein Shakespeare-Zitat, den man den handelnden Personen sicher nicht zutraut: Bossong schreibt keinen Ruhrpott-Slang, sondern eine verständliche Kunstsprache, zu der das abstrakte, aber leicht interpretierbare Bühnenbild perfekt passt.
Auch der zeitliche Ablauf der Geschichte unterliegt der künstlerischen Gestaltung. Erzählt wird in Drei-Jahres-, später auch in Ein-Jahres-Sprüngen: 1936 - 1939 - 1942 - 1943. Jede Episode beginnt mit einer Neujahrsansprache - Daniel Rothaug, im Stück als „Chor“ bezeichnet und zuständig für die Stimme der „nationalsozialistisch indoktrinierten Masse“, wie Bossong es in einem im Programmheft abgedruckten Interview ausdrückt, hält eine Rede, deren Bestandteile Bossong aus Aktenmaterial, überlieferten Zeitungsartikeln etc. kompiliert hat, könnte hier aber auch die Stimme des mehrfach erwähnten Gelsenkirchener Oberbürgermeisters Carl Böhmer sein, der der Stadt von September 1933 bis zum Kriegsende vorstand. Zu Beginn geht es um das Wohl und Wehe der Stadt Gelsenkirchen (Gott erhalte den Führer), später werden die Reden immer fanatischer, und schließlich enthalten sie versteckte Durchhalteappelle.
David Lau, Philipp Quest und Simin Soraya sind in weiße Raupenkostüme gesteckt. Raupen sind schöne Larven, wie Lotte mehrfach betont, die sich zu noch schöneren Schmetterlingen entwickeln können - die aber auch nur ein verdammt kurzes Leben haben. Raupen opfern sich auf wie das ganze Volk, heißt es einmal. Doch die „Raupen-Lotte auf Grabeland“ wird den Spuk nach gut 100 Minuten beenden. „Volksfremde Körper“ waren sie schließlich, eingeschleppt aus Fernost. Ein „Volk ohne Raupen-Raum“ musste sich wehren. Wir aber wehren hoffentlich den Anfängen, wenn eine zunehmende Anzahl von Menschen wieder solche Nazi-Parolen brüllt.