Die Reise zur Glückseligkeit
Hand aufs Herz: Haben Sie schon einmal etwas von Maurice Maeterlinck auf einer Schauspiel-Bühne gesehen? Die Opernfreunde kennen Pelléas et Mélisande von Claude Debussy, vielleicht auch die gleichnamige sinfonische Dichtung von Arnold Schönberg. Das entsprechende Maeterlinck-Schauspiel wurde von zahlreichen Komponisten zu musikalischen Werken verarbeitet. Aber im Sprechtheater? In Deutschland werden die Werke des 1949 verstorbenen Autors kaum aufgeführt. In Belgien dagegen ist Maeterlinck, dem im Jahre 1911 sogar der Literatur-Nobelpreis zugesprochen wurde, nach wie vor ein Star; auch in Osteuropa wird er noch regelmäßig gespielt. Er gilt als einer der wichtigsten Vertreter des Symbolismus in der Literatur. Zum Symbolismus zitieren wir Wikipedia wie folgt: „Der symbolistische Dichter schafft aus Bruchstücken der Realität Symbole, die, neu zusammengesetzt, eine Welt der Schönheit beziehungsweise der ideellen, ästhetischen und oft auch spirituellen Vollkommenheit ergeben sollen.“ Antirationalistisch und antimaterialistisch, war der Symbolismus eine Kunstrichtung des ausklingenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. In der Bildenden Kunst haben viele seiner Werke Bestand. In der Literatur ist er out - vielleicht mit gutem Grund. Doch was für ein zauberhaftes Märchen haben die Regisseurin Helga Lázár und ihre Bühnenbildnerin Justyna Koeke jetzt am Theater Aachen auf die Bühne gebracht!
Der blaue Vogel gilt neben Pelléas und Mélisande als das literarische Hauptwerk der Kunstrichtung. Helga Lázár verankert zumindest Maeterlincks Rahmenhandlung in der Gegenwart und bringt es mit den Mitteln des Kinder- und Jugendtheaters auf die Bühne. Ohne dass es als solches angekündigt wäre, geht das Stück in der Aachener Fassung locker als Familienstück durch - na gut, „ab 12 Jahren“; so zumindest grenzt das Theater die Zielgruppe der Aufführung ein. Wer jünger ist, wird die Intentionen des Autors und der Figuren vermutlich nicht verstehen, könnte aber trotzdem an der einen oder anderen Episode Freude haben. Akzeptiert man diesen Inszenierungs-Stil, kann man sich auch als Erwachsener fallen lassen in eine Zauberwelt wie bei Alice in Wonderland und in eine Glückssuche, die gerade für unsere zunehmend polarisierte Welt manche Anregungen bereithält.
Los geht’s mit zwei Jugendlichen von heute. Mytyl fläzt sich mit ihrem Handy auf der 3000-Euro-Couch und schiebt sich unablässig Chips in den Schlund. Chillen scheint ihr Lebensinhalt, ist aber langweilig. Tyltyl, ihr ernsthafterer und ehrgeizigerer Bruder arbeitet mit seinem Laptop an einem Referat für die Schule. Zwar chillt er weniger, dafür ist er aber per se schon ein Langeweiler - oder etwa nicht? Beide lösen schon mit ihrem von Nola Friedrich und Luc Schneider realitätsnah gespielten pubertärem Gehabe und witzigem Zergen Gelächter im Publikum aus. Man einigt sich auf Pizza, doch statt des Pizzaboten taucht wie von Zauberkraft - und auch mit riesigem Zauberer-Hut - die Fee Berylune in der biederen Mittelstands-Bude auf und bittet die Kinder, nach dem „blauen Vogel“ zu suchen, dem „Vogel der Glückseligkeit“, der ihre kranke Tochter heilen soll.
Und schon geht’s mit Katz‘ und Hund (großartige sprechende Haustiere: Shebab Fatoum und Janina Sachau) auf die Reise zu den fantastischsten Orten einer anderen Welt. Das personifizierte Licht weist ihnen den Weg zum Palast der Nacht und durch den Garten der Erinnerung ins Reich der Zukunft. Auf ihrer Reise treffen sie auf die Seele der Dinge: die Seele des Wassers und des Feuers (tanzend mit zwei roten Flammen an den Händen), die Seele des Brotes, der Vorhänge oder der Stühle. Letztere, gezwungen in eine feste, starre Position und dem Menschen bedingungslos untertan, fühlen sich wie in einer Tyrannei. Bei Frau Nacht steht ein ausrangierter Spielzeug-Panzer, der in der Inszenierung keine Rolle spielt, aber die Nachtseiten unserer Existenz illustrieren könnte. Auch ein Kinderwagen steht dort - Frau Nacht erzählt von ihren beiden Sprösslingen, dem Schlaf und … ach, Schlafes Bruder halt, von dem man sich nicht so gern überwältigen lassen möchte. Die Nachtgespenster dagegen langweilen sich, weil die Menschen sie nicht mehr ernst nehmen. Aber sie vermögen zurückzuschlagen: Die Krankheiten sind unglücklich, weil der Mensch sie erfolgreich bekämpft - da werden sie halt zur Pandemie. Schwer atmend gibt Janina Sachau die Klimakatastrophe: Sie steckt in einem riesigen, runden, unförmigen Kostüm aus Plastikmüll und bringt ihren kleinen Bruder, den Hunger, mit. Die Tiere und die Pflanzen des Waldes reflektieren ihr Verhältnis zum Menschen; die Kinder begegnen der Seele der Unfruchtbarkeit und der Seele der Kriege, die zum Glück meist träge ist (blickt man auf die heutige Welt, scheint sie allerdings leider manchenorts hellwach).
Auf dem Friedhof, im Garten der Erinnerung, treffen die Kinder auf ihre Großeltern, aber auch auf Delfine, vergessene Rucksäcke oder ausgemusterte Spiegel. Viel zu selten haben sie die Möglichkeit, sich zu erheben, sagen die Großeltern: Das Wort Tod kennen die Bewohner im Land der Erinnerung nicht, aber viel zu selten weckt sie ein Gedanke oder gar ein Besuch der Lebenden. Und so gerät all das Märchenhafte dieser Erzählung zu einem Plädoyer für mehr Achtsamkeit - im Hinblick auf die Lebenden und die Toten, die Dinge, die Umwelt und das Klima.
Den blauen Vogel der Glückseligkeit finden die Kinder nicht. Ihn mögen sie entdecken im riesigen Azur-Palast: im Reich der Zukunft, das die Ausstatterin Justyna Koeke tatsächlich ganz in Blau gehalten hat. Hier treffen Mytyl und Tyltyl auf die Kinder, die noch auf ihre Geburt warten. Eines von ihnen mag irgendwann einmal die Ungerechtigkeit der Welt beenden. Küssend nehmen die Ungeborenen Abschied voneinander, wenn eines von ihnen in die reale Welt hinüberwechselt. Auch Mytyls und Tyltyls künftige Schwester stellt sich vor. Der Reisesack, den sie mit auf die Erde nehmen wird, ist mit drei Krankheiten gefüllt, und neben ihm steht eine Urne. Sie wird früh sterben. Aber sie ist glücklich und zufrieden.
Großartig, mit kindlicher Fantasie erzählen die Regisseurin und die Schauspieler den Erwachsenen von der Kunst, das Glück zu sehen und zu hören. Mit fantastischen Kostümen erweckt Justyna Koeke die Objekte so zum Leben, wie sich das im Symbolismus gehört - und wie Helga Lázár es aus dem Figurentheater kennt, in dem sie zu Hause ist. Man muss sie gesehen haben, die Seele der Dinge, die auf der Aachener Bühne tanzen: die Zuckerfrau mit ihrem Kleid aus lauter weißen Zuckerstückchen, den Brotmann, der zwar keine Ähnlichkeit mit Bernd dem Brot, dafür aber umso mehr mit dem Weizenmisch unseres lokalen Bäckers aufweist, den Waldgeist mit Fellresten, Geweih und Lumpen, die lebendige Einkaufstasche. Vielleicht müssen wir die Dinge einfach mal aus solcher Perspektive betrachten, damit diese kaputte Welt geheilt wird.
Lasst uns also träumen. Bevor die Kinder wach werden aus ihrem Traum, erzählt ihnen Berylune noch von den zahlreichen Vertretern des Zuhauseglücks: vom Glück, wohlauf zu sein, vom Glück, seine Eltern zu lieben, vom Glück des blauen Himmels, des Waldes und des Regens sowie vom diamantenen Glück des Sonnenscheins. Sie könnte noch erzählen vom Glück, in tiefer Nacht über diese zauberhafte Aufführung berichten zu dürfen. Aber Berylune verschwindet. Sie zieht sich zurück ins Land des Schweigens der Dinge. Der blaue Vogel ist fortgeflogen. Vielleicht fliegt er irgendwann in ferner, ferner Zukunft einmal aus dem blauen Azurpalast der Utopie hinüber in unsere Welt. - In der Gegenwart klingelt der Pizzabote. Er lacht - und hat es eilig, weil er sein Motorboot im Halteverbot abgestellt hat.