Übrigens …

Der Untergang des Hauses Usher im Aachen, Theater

Der Puls des Hauses Usher

„Hören Sie das zarte Seufzen der Objekte?“, fragt Ligeia. Am Freitag (15. November 2024) hatte in Aachen Maurice Maeterlincks Der blaue Vogel Premiere gehabt (siehe hier), in dem nicht nur Hund und Katze, sondern auch die Objekte eine Seele besaßen und kommunizierten. Aus dem symbolistischen Stück hatte Helga Lázár ein lichtes, optimistisches Märchen gemacht. Tags darauf zeigt das Theater Aachen das schwarze, depressive Gegenstück dazu. Einen kaum wahrnehmbaren Riss, der sich durchs Gemäuer zieht, bemerkt Sir Rodericks Freund bei seiner Ankunft auf Haus Usher, in dem es so still ist, „dass das Gehirn - wahrscheinlich in Ermangelung tatsächlicher Reize - begann, sich Töne einzubilden.“ Ja, hier könnte man das Seufzen der Objekte hören. Laut knarzen die Türen, klackern die Eiswürfel beim Umrühren eines Cocktails. Laut aber hallen auch die Schritte der sich in Zeitlupe bewegenden Bewohner. Der Verfall des Hauses, der einhergeht mit dem Verfall seiner Bewohner erklärt sich vielleicht tatsächlich „eher durch die Regeln der Psyche als durch die Regeln der Statik“, wie es einmal heißt. Es ist frappierend, wie sich die Inszenierungen der Texte beider so unterschiedlicher Autoren aufeinander zu beziehen scheinen.

Poes Text ist ein Horror-Märchen, so faszinierend wie Der blaue Vogel, aber im tiefsten Dunkel endend. Dominierte ein leuchtendes Blau die Maeterlinck-Aufführung, so ist die Farbe sämtlicher Bewohner und Besucher des Hauses Usher ein tiefes Schwarz; das großartige Aachener Geisterschloss selbst wird vom Licht-Designer Dirk Sarach-Craig in wechselnde, der Unheimlichkeit der Szenerie Vorschub leistende Farben getaucht: Lila zu Beginn, später mal braun, mal schwarz - und mal blutrot. Filmische Musik unterstreicht den Eindruck einer bedrohlichen Morbidität. Von „schattenhaften Fantasiegebilden“, die auf ihn eindringen, spricht der Ich-Erzähler in Poes Kurzgeschichte. Tatsächlich wirken sowohl das Gebäude, das Alexander Naumann im Stile eines romantischen Schauerstücks designt hat, als auch die von Josa Marx in gespenstische Kostüme gekleideten Figuren wie Schatten aus einem Reich dunkler Fantasie. Manchmal fallen die Sprache der Schauspieler und die Lippenbewegungen auseinander - kaum merklich, aber irgendwie verstörend kommt der Text dann aus dem Off. Anders als die gelegentliche, aus mangelhafter technischer Präzision resultierende Asynchronität bei Fernseh-Interviews wirkt diese Diskrepanz nicht störend, sondern spooky. Und angesichts der betont verlangsamten Bewegungen aller Figuren könnte man meinen, dass die Krankheit von Madeline, der todgeweihten Schwester des Hausherrn Roderick Usher, auch die übrigen Protagonistinnen und Protagonisten bedrohe: Madeline leidet an Katalepsie, einer Form der Erstarrung, bei der Körperbewegungen gestoppt oder Körperhaltungen ungewöhnlich lange beibehalten werden.

Hinfällig sind alle, die in diesem Haus leben - wie zusammengebrochen unter der Last des Daseins sieht man sie einmal im Esszimmer des Geisterschlosses sitzen. Roderick hustet, bekommt so etwas wie einen epileptischen Anfall: Der Hausherr leidet „unter einer krankhaften Verschärfung seiner Sinne“; er kann Stoffe auf der Haut nicht ertragen, Blumenduft ist ihm zuwider. „Sein Herz ist eine hängende Laute. Bei der kleinsten Berührung beginnt es zu schwingen“, beschreibt eines der vielen poetischen Sprachbilder der Inszenierung Rodericks Sensibilität, die sich zur Depression gewandelt hat. Die fahlen Gesichter, das Zittern von Roderick - „der Körper ist das Haus der Seele“ heißt es einmal. Dieses Haus mit seinem Riss im Gemäuer, seinem Riss in der Seele ist ein Sinnbild für den Zustand der Menschen, und entsprechend wird es im Text verlebendigt: „Was denkt ein Haus kurz vor dem Einsturz?“ Und welchen Puls mag es haben, wenn der Puls abhängig ist von der Größe eines Lebewesens: Der der Maus schlägt ca. 500mal pro Minute, der eines Elefanten 15mal, der eine Pottwals zweimal - und der eines Hauses?

Rein praktisch lernt man das Haus durch den souveränen Einsatz der Drehbühne kennen, derer sich so viele Regisseure kaum zu bedienen wissen. Rasend schnell wird hinter der Bühne umgebaut: Mal sehen wir zwei Türme mit Terrassengang, mal befinden wir uns im Esszimmer, mal in einer gruseligen Küche, mal im Keller, in dem Madelines Sarg aufbewahrt wird. Eine Fahrstuhltür öffnet sich wieder und wieder - doch der Fahrstuhl, mit der ein Zwillingspärchen fliehen will, bewegt sich nicht: You can check out any time you want, but you can never leave“, heißt das im „Hotel California“ - eine Flucht aus den Fängen des Horror-Hauses ist den Figuren nicht möglich.  

Apropos Zwillinge: Weermann bedient sich des ganzen Poe-Universums als Steinbruch für seine Inszenierung und fügt eigene Texte (vor allem in den Dialogen) hinzu. Die Zwillinge sind die Doppelgänger aus „William Wilson“, und wie in der gleichnamigen Erzählung massakriert der eine den anderen am Ende, kämpfend über dem Sarg der Madeline. Poes Gedicht „Das Geisterschloss“, das auch in die Original-Erzählung einfließt, wird in voller Länge zitiert; Motive aus den Erzählungen „The Tell-Tale Heart“, „Die Maske des Roten Todes“ und anderen werden eingebaut; Arthur Gordon Pym ist zu Dr. Pym mutiert, der den Erkrankten als morbider ärztlicher Beistand oder Sterbehelfer dient. Und wie beim Maeterlinck-Abend tags zuvor kommt ein Vogel vor, und auch der („mein Staunen war unendlich, denn das Tier, es sprach verständlich“) redet. Na klar: „Thus Quoth the Raven - Nevermore“ - es ist der Rabe aus Poes wohl berühmtesten Gedicht, der das ewige Dunkel für die dumpfe und schwere Seele des Erzählers prophezeit.

Vor allem aber - Poe-Exegeten werden schon im ersten Satz dieser Rezension gezuckt haben - hat Weermann aus dem namenlosen Ich-Erzähler die Figur der „Ligeia“ gemacht, die Frau, die in Poes gleichnamiger Erzählung glaubt, dass Sterben nur auf Mangel an Willenskraft beruht, bevor sie selbst ins Reich der Toten übersiedelt. Und dann plötzlich dem Sarg von Lady Rowena, ihrer Nachfolgerin als Gattin des Ich-Erzählers, entsteigt. Im House of Usher stirbt als erste Madeline. Bald klopft es vernehmlich aus ihrem Sarg. Ihre Auferstehung zeigt: Sie kommt nicht als Erlöserin… - Bald rotiert die Drehbühne wie aus den sämtlichen Angeln gerissen. Dass das Haus zusammenfällt, muss man sich denken - oder noch einmal den dunkel raunenden Stimmen zuhören, die da berichten, wie sich „der tiefe und schwarze Abgrund … schweigend über den Trümmern des Hauses Usher“ schließt.     

Kann man ein solches Horror-Märchen heute noch ungebrochen für die Bühne inszenieren? Man kann, denn es macht Spaß zuzusehen. Aber Weermann bricht die Erzählung durchaus: Winzige humorvolle Einsprengsel, absurde Ideen und surrealistische Bilder bannen die Aufmerksamkeit. Die optischen und akustischem Reize der Inszenierung garantieren allemal ein Theatervergnügen, auch wenn man sich manchmal ein wenig mehr Rhythmuswechsel gewünscht hätte. Poe-Experten haben zudem ihre helle Freude am Motiv-Rätseln. Und wer sich die doppelte Dröhnung gibt und auch den „blauen Vogel“ beucht, der wundert sich, wie sehr sich beide Inszenierungen aufeinander beziehen. Zufall oder nicht?