Verkrustete Strukturen
Stumm und clownesk, mit den pantomimischen Gesten und der Mimik eines Spaßmachers tanzt und torkelt Dennis Philipp als Franz über die Bühne, wo er alsbald auf seinen Kollegen Willem (Kerstin Sommer) trifft. Die beiden Wächter nähern sich der zeltartigen Behausung, in der der Protagonist aus Kafkas Prozess lebt. Aus einem alten, unförmigen Radio-Empfänger erklingt der berühmte, nur unwesentlich veränderte erste Satz aus Kafkas Roman: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hatte, wurde er am Morgen seines 30. Geburtstags verhaftet.“ Muntere Unterhaltungsmusik begleitet den doch eigentlich beunruhigenden Satz. Will Regisseur Remo Philipp den Roman über eine unmenschliche Bürokratie, eine auf Paradoxien beruhende Staatsmacht oder wahlweise über eine innere, möglicherweise psychoanalytisch erklärbare Traumatisierung (um nur drei von zahlreichen verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten zu nennen) etwa als Komödie aufführen?
Weit gefehlt. Franz und Willem werden in ihrem zweiten Auftritt etwa eine Stunde später vor dem Untersuchungsrichter auf dem Boden knien als seien sie in einem Foltergefängnis. Der Witz der ersten Szene mag die Arglosigkeit des Josef K. an diesem ersten Tag seines letzten Lebensjahres versinnbildlichen. Wieder und wieder beginnen die neuen Szenen mit demselben Liedchen aus dem Radioempfänger: „It’s a beautiful morning…“ – Bald klingt dies nach dem Zynismus eines nach undurchsichtigen Regeln, aber irgendwie auch machtbewusst handelnden Staates. K., wir wissen das, wird darin untergehen, ohne dass er sich jemals gegen seine Verhaftung wird wehren können, ja: sogar ohne dass er jemals erfahren wird, welches Vergehen ihm vorgeworfen wird. K. wird dadurch zunehmend verunsichert, wird wütend auch; immer unheimlicher werden sowohl das äußere als auch das innere Bedrohungs-Szenario. Die surrealen Begegnungen und Erlebnisse, die auf K. warten, haben bei Lichte betrachtet allerdings durchaus eine komödiantische Komponente. Oder eher eine sarkastische: Der Staat, die Bürokratie und die meisten Menschen, die K. trifft, spotten jeder Beschreibung. Und sie sind jeder Veränderung abhold: Es gibt – oder sollen wir sagen: es gäbe - also Raum für Interpretationen.
Remo Philipp enthält sich in seiner Inszenierung am Prinz Regent Theater Bochum allerdings einer – im Grunde ja auch nur den Blick des Zuschauers verengenden – Festlegung auf eine einzige Interpretationsweise. Seine Erzählung bleibt nah an der Handlung und am Ablauf des Romans. Interpretationen bringt er über die Charakterzeichnung der Personen ein. K., der Prokurist einer Bank, tritt seinen Wächtern in der Verhaftungsszene mit der Souveränität des Leitenden Angestellten entgegen. Doch nach und nach wird sein Selbstbewusstsein erschüttert. Jonny Hoff verkörpert die langsame Entwicklung seiner Figur vom – auch über Schuld und Entschuldigungen – reflektierenden Intellektuellen zum mal Wütenden, mal Gehetzten, Verunsicherten überzeugend. Bereits beim Versuch, die Räumlichkeiten der Untersuchungskommission auszukundschaften, wirkt seine gespielte Souveränität nicht mehr echt: Jeden Satz liest er unbeholfen aus einem Buch ab. Bald sehen wir K., wie er sich von Alpträumen gequält in seinem Bett wälzt.
Sound, Nebel, Videobilder und flackerndes Licht versinnbildlichen die zunehmende Bedrohung des Protagonisten durch eine undurchsichtige, aber machtbewusste Bürokratie und ihre oft kriecherischen Befehlsempfänger, die den Machtapparat selbst nicht durchschauen. Und die werden (mit Ausnahme der bereits erwähnten Wächter) sämtlich von einem einzigen Schauspieler gespielt. Nicolas Martin ist die zärtliche Leni, der autoritär-konservative Onkel, der stotternde Kaufmann Bloch, der gebrechliche, nichtsnutzige Advokat Huld, die undurchsichtige und (anders als im Roman) abstoßende Waschfrau und Gattin des Gerichtsdieners, das leicht zynische Fräulein Bürstner und viele andere mehr – insgesamt verkörpert Martin zwölf verschiedene Rollen. Das dürfte für ihn nicht nur ein Traum-Job sein, sondern Martin ist auch eine Traumbesetzung: Seine Wandlungsfähigkeit scheint unendlich. Nur der Sinn des betont körperlichen Spiels zwischen den beiden Darstellern, der vielen Liebkosungen zwischen Hoff und Martin, ist dem Rezensenten verschlossen geblieben.
Hermetisch in sich verschlossen scheint auch die Außenwelt um K. herum. Auf die berühmte Türhüter-Parabel wollen wir dabei gar nicht eingehen – Nicolas Martin, diesmal in der Rolle des Kaplans, erzählt sie geradezu drohend, als Macht-Demonstration eines in sich selbst verschanzten Staates, und endlich scheint K. die Aussichtslosigkeit seines Falls zu begreifen. „Seien Sie nicht mehr so unnachgiebig, gegen dieses Gericht kann man sich nicht wehren, man muss das Geständnis machen“, hatte Leni K. in einer der leisesten Szenen (der einzigen fast poetischen) geraten. Hätte ihm das genützt? Wohl kaum. Das Gericht hat extrem verkrustete Strukturen; alle seine Zuarbeiter sind veränderungsresistent - wie unser heutiger Staat, wie unsere heutige überbordende, die Wirtschaft lähmende Bürokratie. Advokat Huld betreibt die reinste Arbeitsverweigerung, und vom Gericht selbst heißt es, selbst der Einfachste erkenne Verbesserungsmöglichkeiten, aber das wolle niemand hören. Entsprechende Vorschläge schadeten der eigenen Sache. Nein, Remo Philipp aktualisiert nicht, aber dennoch kommt man manchmal ins Nachdenken, wie viele Parallelitäten zur heutigen Zeit es in Kafkas Roman gibt.
Recht früh äußert K.s Vermieterin Frau Grubach, der Prozess komme ihr als „etwas Gelehrtes“ vor, das sie zwar nicht verstehe, das man aber auch nícht verstehen müsse. Ein solcher Satz lässt gerade angesichts der zunehmenden Politikverdrossenheit und Demokratiefeindlichkeit aufmerken. Er zeigt, wie leichtfertig sich Menschen von der intellektuellen Durchdringung der gesellschaftlichen Vorgänge abwenden und dadurch zu Werkzeugen der Mächtigen oder auch der Populisten werden. Und er ist ein laut schallender Ruf nach Transparenz. Für K. käme die zu spät. „Noch habe ICH das Sagen", behauptet Jonny Hoff zwar trotzig. Doch dann geht er der Hinrichtung entgegen, und aus dem Lautsprecher klingt zum letzten Mal das Lied der Rascals: „It's a beautiful morning…“