Kinder sind anders
Im Schauspiel Düsseldorf lädt ein grandioses junges Ensemble zu zwei Stunden Ferienlager im Wald ein. Zunächst tobt da nur ein Einzelner auf der kahlen Bühne herum - ob Junge oder Mädchen ist nicht so genau unter dem Wuschelhaar zu erkennen, und auch der Name Kemi, den wir ohnehin erst viel später erfahren, gilt in vielen Ländern als Vorname für alle Geschlechter. Also Kemi kämpft auf der leeren Bühne vor schwarzem Hintergrund gegen einen Mückenschwarm, den wir uns allerdings vorstellen müssen. Dabei berichtet er von seinem Ärger, dass er in das Wald-Sommerlager muss. Zum einen, weil er die Natur angeblich hasst, zum anderen, weil die Mutter ihn dazu anmeldete, ohne mit ihm darüber zu sprechen. Auf die Erklärungen der Mutter, die aus dem Off kommen, antwortet er ein wenig altklug: „Aber Entscheidungen, die mich betreffen, wollten wir doch diskutieren!“ Um dann - ans Publikum gerichtet - einzugestehen, dass er ja die Mutter versteht: „Mütter sind schon okay. Ist auch nicht einfach mit mir.“
Da haben wir gleich die wunderbare Hannah Joe Huberty vor uns, die zum einen die Rolle des Kemi in all seiner Verständnisbereitschaft, Ambivalenz, seinen Selbstzweifeln und Konflikten überzeugend gibt, zum anderen in einem endlosen „inneren Monolog“ das Geschehen um ihn herum kommentiert, reflektiert und interpretiert. Und das mit einer solchen inneren Anteilnahme, dass man gar nicht auf die Idee kommt, dass diese Sprech-Begleitung einer technischen Besonderheit geschuldet sein könnte, nämlich der Künstlerischen Audiodeskription, die es ermöglicht, dass auch Sehbehinderte diese wunderbare Inszenierung von Carmen Schwarz erleben können (Inklusionsberaterinnen von Un-Label: Amy Zayed, Charlott Dahmen, Joy Bausch).
Dann geht’s los: ein gelber Pappmaschee-Bus „rollt“ auf zehn Beinen über die Bühne, die sich zugleich mit einer herrlichen Waldkulisse bestückt. Aus den Fenstern schaut zwischen vier fröhlichen Gesichtern ein miesepetriges, natürlich Kemi. Es folgt die Verteilung auf kleine Hütten, Grüppchen haben sich gebildet, zwei Außenseiter bleiben übrig: Kemi und Jörg, ein Einzelgänger und Mobbing-Opfer. Er ist anders, wird aber von Marko und Dreschke, zwei böswilligen Mitschülern, noch „andersiger“ gemacht. Er wird „ver-andert“, so Kemi.
Die Aktivitäten der Freizeit beginnen, alle scheinen vergnügt, doch Kemi zieht sich zurück, bleibt lustlos und beobachtet, wie Marco (herrlich locker hinterlistig: Natalie Hanslik) und sein Gefolge es auf Jörg abgesehen haben. Doch der scheint daran gewöhnt, auch daran, Außenseiter zu sein. Er zeichnet, was ihn umgibt, liebt das Wandern und freut sich an der Natur (hoch sensibel gegeben von Leon Schamlott). Kemi meint, ihm helfen zu müssen, findet mögliche Lösungen und verwirft sie wieder. Er ist zu feige, fürchtet, wenn er sich einsetzt, selbst ein „Opfer“ zu werden, zieht sich in sich, sein Heimweh und seine Ängste zurück, wird dabei nachts von einem schlimmen Alptraum gequält: ein Wolf erscheint mit funkelnden Augen - überall im Wald und schließlich gar an seinem Bett.
Doch dann gibt es mehr und mehr Zeichen des Verstehens und der Annäherung zwischen Jörg und Kemi. Tatsächlich erscheint der Wolf zu ihrer Überraschung allen beiden. Das verbindet. Schließlich wagen es beide, sich den Betreuern anzuvertrauen. Doch Zora, auf der Bühne die einzige Betreuerin (in der Buchvorlage sind es vier) bleibt verständnislos (rasant gegeben in schnellem Wechsel als Mädchen Benisha und Zora von Ayla Pechtl). Wunderbar, wie Felix Werner-Tutschku dabei aus der Rolle des feigen Marco-Fans in die des sensiblen, verständnisvollen Kochs schlüpft. Der einzige übrigens unter den Erwachsenen, der hinhört, der beobachtet, der Verständnis hat für die Probleme der jungen Leute. Wirklich Hilfe bringt sein Feingefühl mit dem Ratschlag: „Sucht nicht nach Schuldigen, sucht nach Lösungen!“ allerdings nicht. Fantastisch, wie virtuos alle auf der Bühne immer wieder in die Rollen der Jugendlichen schlüpfen und ihr Leben ergreifend und glaubhaft darstellen.
Wolf ist eine Adaption des gleichnamigen Jugendromans von Sasa Stanisic, mit scherenschnittartigen Bildern von Regina Kehn. Das Buch wurde 2024 als bestes Kinderbuch im Rahmen des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet. Auch im Roman wird das Geschehen von dem Mitschüler Kemi beobachtet und als eigenes Erlebnis berichtet, was den Stücktext sehr authentisch macht. Carmen Schwarz und ihr Team kürzten sinnvoll sowohl beim Personal als auch bei den Aktivitäten im Ferienlager. Dass sie allerdings den Auftritt der Försterin als reichlich veralberte Szene am Schluss noch einschieben, ergibt keinerlei Sinn, zumal sie auch im ansonsten so grandios erzählten Roman eher ärgerlich ist.
Das Publikum, Klein und Groß, war begeistert.