Coming Out im Zauberberg
Im Jahre 1929 erhielt Thomas Mann den Literaturnobelpreis. 90 Jahre später ging die Auszeichnung an die polnische Schriftstellerin Anna Tokarczuk (der Preis galt für das Jahr 2018, in dem die Verleihung der Corona-Epidemie wegen ausgesetzt wurde). Weitere drei Jahre später veröffentlichte die nunmehr hochdekorierte Tokarczuk einen neuen Roman, der in hohem Maße auf Thomas Mann zurückgriff. Allerdings ist sein Titel weit von der Welt des Deutschen entfernt: Empusion, mit Betonung auf der zweiten Silbe, denn das Kunstwort geht auf die „Empusen“, weibliche griechische Spukgestalten sowie auf den Begriff „Symposion“ für philosophisch grundierte Konferenzen und Trinkgelage zurück. Unter einem Empusion müssen wir uns also so etwas wie eine Konferenz weiblicher Schreckschrauben mit anschließendem Festgelage vorstellen, das für die Männer möglicherweise nicht allzu gut ausgeht. Warum fallen uns da bloß der gute alte Dionysos und die Bakchen des Euripides ein?
Gar nicht so dumm, der Gedanke, wie man nach dem Besuch der Roman-Dramatisierung am Schauspiel Köln beim Studium des Programmzettels feststellt: Dort liest man, dass sich die erste Erwähnung einer Empusa bei Aristophanes findet, und zwar in seinem Drama „Die Frösche“. Dionysos und sein Diener Xanthias begegnen da einer feurigen Lady, die ein Bein aus Erz und ein anderes aus Kuhmist hat. Bei Tokarczuk tauchen zudem die Tuntschis aus, alpenländische Sexpuppen aus Stroh und Holz, mit Hilfe derer sich die monatelang in der Abgeschiedenheit des Hochgebirges dem drängenden Hormonstau ausgesetzten Senner selbstbefriedigten. Hat jemand von Ihnen „Die Kinder der Toten“, den Stummfilm vom Nature Theater of Oklahoma nach dem Roman von Elfriede Jelinek gesehen? Irgendwie so stellt man sich die Feiern der Tuntschis und Empusen vor: als splattermoviemäßige Schauergeschichte im ins Gruselige gewendeten Heimatfilm-Ambiente.
Diese Heimat ist bei Olga Tokarczuk das niederschlesische Görbersdorf. „Die Kinder der Toten“ hat die Autorin natürlich auch gelesen - vor allem aber hat sie sich in ihrem Roman den „Zauberberg“ von Thomas Mann vorgeknöpft und dem hochanständigen, verdeckt schwulen Lübecker Frauenfeind eine feministische Persiflage seines Operis Magni entgegengehalten. Auch im Heilbad Görbersdorf gab es eine Lungenklinik, und in der guten niederschlesischen Luft wurden Heilmethoden für Tuberkulose-Kranke entwickelt, die Thomas Manns Davos jede Menge Ruhm und schnöden Mammon einbringen sollten. In den Wäldern um Görbersdorf hausen sie nun, die Tuntschis und Empusen, und verlangen einmal im Jahr ein Männer-Opfer.
Thomas Mann hat bekanntlich nicht nur wegen seiner Bandwurm-Sätze, sondern auch wegen der sprechenden Namen seiner literarischen Figuren große Reputation erlangt. Die polnische Autorin steht dem Deutschen im Hinblick auf die Namensfindung nicht nach, und das Besetzungskonzept des Regisseurs Antú Romero Nunes, der den Roman in einer Koproduktion des Lausitz-Festivals 2024, des Schauspiels Köln und des Theaters Basel auf die Bühne gebracht hat, bedient diese Tatsache höchst vergnüglich: Tokarczuks Chefarzt heißt Dr. Semperweiß - ob Herr Immerweiß immer dem weißen Kittel des Mediziners verpflichtet ist, lassen wir mal dahingestellt. Der Zauberberg‘sche Hans Castorp hört bei Tokarczuk auf den Namen Mieczyslaw Wojnicz - „Wojna“ ist auf Polnisch der Krieg (wie auch auf Russisch, wenn er nicht gerade in Operation Z umbenannt wird), und „Wojownik“ ist auf Polnisch der „Krieger“. Unser Mieczyslaw ist allerdings nichts weniger als ein schlagender Geselle auf Kriegspfad. Der Neuankömmling in Semperweiß‘ Klinik gleicht eher einem ängstlichen Schwächling, ist ein bisschen verklemmt und mutmaßlich noch Jungfrau. Im Sanatorium trifft er auf Mitpatienten wie den so stocksteifen wie stockkonservativen, von seiner umfassenden wissenschaftlichen Bildung überzeugten Lehrer Longinus Lukas, einen langen Lulatsch, den die scheinbar unendlich große, schlanke Charlotte Müller aus dem Ensemble des Staatstheaters Cottbus mit wucherndem Backenbart und dozierendem Habitus großartig karikiert.
Charlotte? Haben wir es wieder mal mit einer der zur Zeit so fashionablen wie belanglosen cross-gender-Besetzungen zu tun, die vor allem die aufrechte politische Haltung des Leitungs-Teams dokumentieren sollen? Ach was: Es kommt viel schlimmer - und deshalb viel witziger und pointierter: Sämtliche Männer werden von Frauen gespielt. Da sich in Lucien Haugs Textfassung unter den lebenden Personen ausschließlich Männer befinden, haben wir also ein reines Frauen-Ensemble. Und was für eins! - Thomas Mann und die meisten seiner literarischen Zeitgenossen seien ja wahre Frauenfeinde, sagt Tokarczuk, und so hat sie ihre Zauberberg-Geschichte mit misogynen Zitaten und Bezügen en masse gewürzt - nicht nur von Mann, auch von Strindberg, Nietzsche und anderen Verdächtigen. Hochnäsig, präpotent und fürs Publikum höchst unterhaltsam werden die abenteuerlichsten Abstrusitäten von fünf starken Frauen dargeboten, die schwächliche, aber von der Überlegenheit ihres Geschlechts überzeugte Jahrhundertwende-Männer (19./20. Jh. natürlich!) spielen. Das Weib, so heißt es da, sei „stets über Kreuz mit der Redlichkeit. Nichts ist da zu finden, keine Tiefe.“ Und mag eine scheinbare weibliche Intelligenzbestie einmal glauben machen, die Frauen würden denken wie Männer, so offenbart ein zweiter Blick: „Sie imitieren nur unser Gespräch.“ Die feministische Kampf-Parole „Mein Bauch gehört mir“ wird umgedeutet in: „Die weibliche Gebärmutter ist Eigentum der Menschheit.“ Da aber männliche Gebärmütter noch nicht erfunden sind und somit alles Leben aus dem Leib der Frau kommt, sind die Mütter auch verantwortlich für alle Misserfolge der Männer. Sagt die Freud’sche Psychoanalyse, sagt der bisweilen großartig satirische Text. Dass gleich vier sämtlich auf den Namen Klara hörende Ehegattinnen versucht haben sollen, den stieseligen Schweizer Tuberkulose-Herbergsvater Wilhelm Opitz „in die Knie zu zwingen“, wäre angesichts solcher Auffassungen (und der konsequent daraus folgenden Käfighaltung) durchaus nachvollziehbar. Aber Opitz hat zumindest die dienstjüngste Klara in den Selbstmord getrieben. Das letzte Werk der Gattin brutschelt noch im Ofen und wird den Gästen und Patienten brühwarm serviert. Dienstmagd bleibt Dienstmagd, noch im Tode…
Nunes inszeniert das Stück komödiantisch, ohne es an die Comedy zu verraten. Dabei scheut die Inszenierung nicht vor gelegentlichen platten Gags zurück, wenn zum Beispiel Anne Haug (blitzschnell wechselt sie die Rollen zwischen Semperweiß und Opitz) sich mit einer Tuntschi vergnügen will und irritiert feststellt, dass ihr dazu eigentlich der Penis fehlt, oder wenn kleine Wortspiele ein Lächeln ins Gesicht der Zuschauenden zaubern. Schnell jedoch nähert sich die Aufführung wieder der spitzzüngigen Satire an. Auch einen philosophischen Spaziergang gibt es, bei dem sich Longinus Lukas und der humanistische Wiener Altphilologe August August (Sabine Waibel) über Nationalstaat und Identität, Demokratie und Autokratie, aber selbstverständlich auch über die Überlegenheit des männlichen Geschlechts austauschen - da kommen einem die Diskussionen zwischen Settembrini und Naphta aus dem „Zauberberg“ in den Sinn.
Gegen Ende wird Plutarch zitiert: Auf die Frage, ob er sich mehr zum Weiblichen oder zum Männlichen hingezogen fühle, habe er geantwortet: „Wo Schönheit wohnt, da bin ich beidhändig geschickt.“ Mieczyslaw (mit großartiger Mimik und Körpersprache: Aenne Schwarz) darf seine non-binäre sexuelle Identität entdecken - auch dank der tragischen Liebe des unaufhaltsam dem Tode entgegenhustenden Thilo von Hahn der Gro Swantje Kohlhof. „Machst du mir Zöpfe?“, bittet der einst so unsichere Mann. Aenne Schwarz löst ihr Haar und wird zur befreiten, selbstbewussten, modernen Persönlichkeit. Wie ist die Welt wirklich, fragt die Inszenierung: „verwischt, unscharf, uneindeutig. So wie eben auch manchmal das Geschlecht.“ - Semperweiß fasst die Aussage der Inszenierung und des Romans zusammen: „Mit Ihrem Selbst, Wojnicz, beweisen Sie eine Welt des Dazwischen, die schwer zu ertragen ist. Sie zeigen uns, dass die Welt größer ist als wir dachten.“
Für die Zeitgenossen von Thomas Mann, Strindberg, Nietzsche und Shakespeare mag das schwer zu akzeptieren gewesen sein. Im 21. Jahrhundert sollten wir es endlich kapiert haben.