Tod und Machtverlust eines abgemeierten Herrschers
Irgendwie schien es eine Weile vergessen: das Absurde Theater. Eugène Ionesco (1909 – 1994) gilt als so etwas wie dessen Erfinder. Und plötzlich gibt es Grund zum Jubeln: Innerhalb von einer Stunde Fahrtzeit haben wir in NRW die Gelegenheit, ein Frühwerk und ein späteres Werk von Ionesco zu bewundern. Nonsens, Worthülsen, Wunderliches und Widersinniges lösen sich in Johan Simons‘ grandios witziger Inszenierung am Schauspielhaus Bochum gegen Ende in einer Art experimenteller Lyrik auf, in einer Kakophonie von Buchstaben, die die inhaltsleere Kommunikation der gehobenen Mittelschicht ad absurdum führt. Das ist eigentlich erschreckend, bei Ionesco aber witzig aberwitzig und bei Simons manchmal sogar hilariously funny. Nicht von ungefähr gehört „Die kahle Sängerin“ zu den amüsantesten und wohl auch deshalb langlebigsten Exemplaren der Gattung.
Nur 12 Jahre später erschienen, gehört „Der König stirbt“ bereits zu einer dezidiert anderen Schaffensphase des Autors. Paula Pohlus feiert mit diesem Text am Schauspiel Köln ihr Regie-Debüt. Das Stück kommt weniger lustig rüber und erscheint trotz typischer Merkmale des Absurden Theaters ernsthafter, problembehafteter. Der Autor war 53 Jahre alt und im Zeitraum der Niederschrift des Dramas krank. Der Text thematisiert seine Angst vor dem Tod – eine Angst, die viele von uns im fortgeschrittenen Alter befällt. Den Protagonisten des Stücks kennen wir: Behringer, der titelgebende König, war zuvor bereits Ionescos gelangweilter Angestellter in den „Nashörnern“ und dort der Einzige, der der um sich greifenden Volksverdummung der Rhinozeritis widerstand – der willenlosen Unterwerfung unter einen Diktator. Jetzt ist Behringer König – und zwar schon seit 277 Jahren. 90 Minuten werden noch hinzukommen – und keine Minute mehr: Am Ende der Vorstellung wird er sterben. Gattin, Exfrau, Leibarzt – sie alle wissen das. Bloß: Wie sag‘ ich’s dem Herrscher? Der, längst abgemeiert als Gebieter über einen zugigen Palast ohne funktionierende Heizung und einen Kleinststaat ohne Untertanen (da erinnert er an Büchners König Peter vom Reiche Popo), klammert sich ans Leben und an die Macht – mit Realitätsflucht, voller Wut, voller Verzweiflung. Ist aus dem widerständigen Behringer der „Nashörner“ selbst ein Diktator geworden? Manches deutet darauf hin, dass er einst ein autokratischer Monarch war. Jetzt ist er nur noch ein Herrscher Ohneland, einer, der durch Überforderung oder Nichtstun den Staat heruntergewirtschaftet hat. Benjamin Höppner spielt ihn in Köln im purpurfarbenen Schlafsack über kurzen Hosen und bandagierten, maroden Knien. Aber Lackschuhe trägt er – ein Sinnbild für die Reste von Illusionen, denen er sich hingibt: Was würde er alles noch erreichen können, wenn man ihm noch hundert Jahre gäbe!
Gemessenen Schrittes und mit groteskem Pomp zieht eine Blaskapelle ein und gibt für jedes musikalische Gehör schmerzhafte schiefe Töne von sich. Das ist der Hofstaat inklusive Behringers aktueller Königin und seiner Ex. Nicolas Streit gibt die Queen Margaret als wunderbar feminine Karikatur im kitschig rosafarbenen Kleid mit allzu rot gefärbten Lippen und goldener Billig-Krone; Henri Mertens als unendlich groß gewachsene Ex-Gattin bemüht sich zwar um Loyalität zum King, pflegt aber einen deutlich raueren und direkteren Ton. Auf einer Bahre liegen des Königs Kleidungsstücke, arrangiert wie einetote Leiche: ein optisches Signal an einen König, der sich noch weigert, die klaren Ansagen zu verstehen: Der Koch hat schon mal das Gas abgestellt, doch der König – hier ganz Diktator – raunzt, er sterbe erst, wann er selber wolle. Zum Dank kriegt er von seiner Ex um die Ohren gehauen, in was für einem desaströsen Zustand er sein Königreich hinterlässt.
Dessen Berge stürzen ein, dessen Städte sind ausradiert und dessen Kneipen leer. Jetzt stürzen Behringers Lebenslügen ein. Der Phase der Realitätsverweigerung folgt die Zeit des Selbstmitleids. Behringer schwingt noch auf der einst von ihm beherrschten Erdkugel wie Miley Cyrus auf dem Wrecking Ball und parliert mit der Sonne: „Trockne die Welt aus und töte alle!“ Doch absurde Machtphantasien eines autokratischen Herrschers wirken im Moment des Todes nur noch verzweifelt. „Ich möchte lieber nicht“ jammert Behringer bald im Einklang mit Melvilles Bartleby: Doch wird das nix mit dem selbstbestimmten Todeszeitpunkt, zumal dem Landesvater die wichtigste aller Kernkompetenzen von Politikern und Staatenlenkern sowohl im Job als auch im Privatleben abgegangen ist: „Er hat nie vorausgesehen“, konstatiert sein Leibarzt (Sinan Gülec). Trotzdem wird – wie es sich post mortem auch bei heutigen politischen Rohrkrepierern gehört – auf die großen Leistungen des Herrschers zurückgeblickt, der in seinen 277 Regierungsjahren immerhin 183mal Krieg geführt, blühende Landschaften erschaffen und Atomraketen erfunden hat. Außerdem machte er sich einst damit verdient, „durch den hier anwesenden Arzt gemordet“ zu haben: „Ich habe es durch Euthanasie getan“, betont er. Eugène Ionesco hat den Faschismus der 1930er und 1940er Jahre noch am eigenen Leibe erlebt…
So folgt denn unerbittlich die Phase der Erkenntnis und der Akzeptanz: „Ich stehe nicht mehr über den Gesetzen“, realisiert der sterbende Potentat und hofft noch auf eine in autokratischen Staaten nicht unübliche Vorschrift, in allen Amtsstuben das Bild des verstorbenen Helden aufzuhängen. Welche Amtsstuben, mag man sich fragen, wenn der Staat nur noch aus ein paar hundert Greisen besteht. Behringer stößt noch ein paar wilde Drohungen aus (von denen sich die eine oder andere heute als zutreffende Prophezeiung erweist) und erkennt schließlich, dass er die einfachen Freuden des Lebens nie zu schätzen gewusst hat. Trotzdem bleibt er irgendwie egozentrisch. „Er liebt sich zu sehr“, heißt es – sich zumindest im Tode oder zum Zeitpunkt einer verlorenen Wahl oder Vertrauensfrage nicht zu wichtig zu nehmen, ist eine schwierige Lektion, die es zu lernen gilt.
Der Hofstaat und insbesondere die zärtliche Königin Margarete erweisen Behringer so etwas wie Liebe und Achtung, und dann – ist der König gestorben. Benjamin Höppner hat ihn grandios verkörpert. Dass die Aufführung in Erinnerung bleiben wird, liegt in erster Linie an Höppners großartiger Mischung aus Körpertheater und Sprachmacht. Auch Streits Königin Margarete und Kei Muramotos Servicekraft Julchen überzeugen. Der Text … nun ja, es hat schon seinen Grund, warum man ihn viel seltener auf unseren Bühnen aufgeführt sieht als „Die kahle Sängerin“. Er dreht sich manchmal im Kreise. Die junge Regisseurin wehrt sich erfolgreich gegen dessen Schwächen und bemüht sich, die komödiantischen Seiten des Stücks in den Vordergrund zu rücken. Ihr Regiedebüt darf man als gelungen bezeichnen.