Wer ist die geniale Freundin?
Das Schauspielhaus Bochum lädt ein zur sechsstündigen Adaption der Roman-Tetralogie Meine geniale Freundin von Elena Ferrante. Die mehr als zweitausend Seiten umfassende neapolitanische Saga beschreibt die Geschichte der beiden Freundinnen Elena Greco, genannt Lenù und Raffaela Cerullo, genannt Lila in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eingebunden in die sozialen und politischen Entwicklungen der Zeit.
Die beiden Mädchen, 1944 geboren, wachsen auf in einem ärmlichen, von patriarchaler Gewalt geprägten Stadtviertel Neapels, schlicht „Rione“ genannt. Beide sind die Besten in der Grundschule und dabei dennoch stets bemüht, noch besser als die „Freundin“ zu sein. Lenù (überzeugend gegeben von Jele Brückner), ernsthaft, fleißig, gelingt tatsächlich der Aufstieg aus dem „Plebs“ durch Bildung, sie wird studieren und eine erfolgreiche Schriftstellerin, allerdings auch Frau eines biederen Professors. Lila, temperamentvoll, kreativ (etwas einseitig ruppig besetzt mit Stacyian Jackson), heiratet früh einen Geschäftsmann, aus dessen gewalttätiger Unterdrückung sie sich aber befreit, um nach einigen Wirren mit Lenùs Hilfe zur Informatikerin zu avancieren. Doch das ist noch nicht das Ende der Geschichte.
Das Spiel setzt ein kurz vor Lilas Heirat. Die Kindheits- und Schulerlebnisse werden rückerinnernd, erzählend sporadisch ins Geschehen eingeflochten, wobei sie an Bedeutung für diese ambivalente Freundschaft verlieren.
Eingestimmt wird das Publikum allerdings schon vorher durch eindrucksvolle Bilder von Neapel oben quer über die gesamte Bühnenbreite. Später werden da auch altbekannte Filmszenen erscheinen, sei es aus Fellinis „Achteinhalb“, aus de Sicas „Fahrraddiebe“ oder Coppolas „Der Pate“. Aber auch Videos vom Spielgeschehen auf der nüchtern mit Sperrholz getäfelten Drehbühne erscheinen da oben, verdoppeln oder vergrößern das Gezeigte oder bieten auch mal die Gegenansicht, denn vis à vis zum Saal ist eine weitere Zuschauertribüne aufgebaut. Auch können die zwei Frauen, die auf der Bühne weit voneinander entfernt sind, im Bild ganz nah beieinander erscheinen. Zudem ist es ein kluger Kunstgriff, einige Szenen auf eine transparente Videowand quer über die Bühne zu projizieren und so für beide Seiten übergroß sichtbar zu machen.
Auf der Drehscheibe stehen einander gegenüber zwei einfache Schreibtische mit Leselampen. Auf Lenùs eine hübsche alte Reiseschreibmaschine und viel Papier. Häufig sitzt sie davor; um Vergangenes oder Zukünftiges zusammenzufassen oder zu kommentieren (ein bisschen viel Wikipedia). Am Rand der Drehscheibe liegen hier Bücher, da lackglänzende Schuhe. Denn Lila sitzt selten am Schreibtisch, wie wir erfahren, arbeitet sie tagsüber in der Flickschusterei ihres Vaters, in ihrer Freizeit aber entwickelt sie sich heimlich gegen den Willen ihres boshaften Vaters zur Schuh-Designerin. Sie, die immer bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten und darüber hinausgeht, wagt auch hier viel, nicht zuletzt um es ihrer gebildeten Freundin zu beweisen, wie sie es schon einst tat, als sie vor ihr durch Selbststudium lateinische Grammatik und griechische Schriftzeichen beherrschte.
Dann gibt es ganz konkret Perspektivwechsel: nach den Pausen - es gibt zwei - wechselt man den Platz, zunächst vom Zuschauerraum auf die Bühne, dann zurück.
Im zweiten Teil scheitert der Wille der beiden Frauen zum selbstbestimmten Leben zunächst an den ihnen von den Männern zugemuteten Geschlechterrollen, an deren Anspruch auf Verfügungsgewalt, bis zur Groteske dargestellt von Ole Lagerpusch in der Rolle als biederer Professor und Lenùs Ehemann. Dafür gibt’s Lacher im Publikum. Die Frauen befreien sich, es gibt Partnerwechsel und Kleiderwechsel, denn drei Schauspieler geben neun Männerrollen, das klappt gut durch Jacken-, Brillen- oder Krawattenwechsel.
In diesem Teil legt Johan Simons in seiner Inszenierung großes Gewicht auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die er teilweise mit konkreten Daten versieht.
Es geht um die Studentenrevolte, den Kampf der Linken gegen die Rechte, die Roten Brigaden und auch immer wieder um den mafiösen Einfluss der Camorra.
Im dritten Teil wird die Naturkatastrophe vom 23. November 1980 dramatisch ausgespielt: Erdbeben und Vesuv-Ausbruch. Zu monströsen Soundeffekten und herabfallenden Splittern werden alle Möbel aufgehäuft zu einem fragilen Möbelberg. Dazu panische Schreie: „Alles vergeht!“
Am Ende ist das Chaos beseitigt und die beiden Frauen treffen in ihrem alten Rione wieder zusammen.
Doch dann noch ein Knalleffekt:.. „Heute Morgen hat mich Rino angerufen“, der Grund? Seine Mutter (Lila) ist unauffindbar. Mit diesem Satz beginnt Elena Ferrante den Prolog ihrer Tetralogie, den sie mit „Die Spuren verwischen“ überschreibt. Auf der Bühne setzt sich Elena Greco an den Schreibtisch, um die Geschichte ihrer verschwundenen, „genialen Freundin“, die schon seit drei Jahrzehnten davon gesprochen hat, sich „ in Luft aufzulösen“, aus der Erinnerung aufzuschreiben. Zwei Puppen fallen auf den Schreibtisch, für Kenner des Romans zum einen ein wichtiger Hinweis darauf, dass Lila noch lebt, denn nur sie kann die Absenderin sein, zum anderen ein Beleg für die Ambivalenz der lebenslangen Beziehung der beiden „Freundinnen“. Zwar verweist Lila im Stück nach der missglückten Hochzeitsnacht kurz auf das Puppendrama, indem sie feststellt „seit damals hab ich alles falsch gemacht“, was aber damals geschah, bleibt unerwähnt. Im Roman lässt Lila als Siebenjährige die von der Freundin (oder Rivalin?) heißgeliebte, wunderschöne Puppe Tina aus Neid oder Eifersucht verschwinden. Lenù glaubt ihre Lieblingspuppe für immer verloren und trauert um sie. Erst als alte Frau erfährt sie von dem Betrug.
Trotz der grandiosen schauspielerischen Leistung aller neun Darstellenden, die die achtzehn verschiedenen Rollen mitreißend auf die Bühne bringen, vermag das zentrale Thema der Freundschaft weder in seiner Intensität, noch in seiner Ambivalenz wirklich zu überzeugen. Die Inszenierung gibt weder der Zuneigung noch der wetteifernden Rivalität der Freundinnen wirklich Raum. Nur am Rande, zu dem eingespielten Rock-Song der Sechziger „Much Too Much!“, beklagt Elena einmal: „Du erniedrigst mich, um deine eigene Erniedrigung besser ertragen zu können.“
Fraglich ist auch, warum Lila mit der mit stark niederländischem Akzent sprechenden Stacylan Jackson besetzt ist, obwohl bei Ferrante die sprachliche Identität, der Wechsel zwischen Hochsprache und Dialekt, eine wichtige Rolle spielt.
Am Ende sitzt Elena Greco, genannt Lenù, einsam auf der Bühne, um die Geschichte ihrer „genialen Freundin“ Lila aufzuschreiben, die allerdings schon lange vorher von Elena als ihrer „genialen Freundin“ spricht. Da ist es doch etwas verwirrend, dass Elena zu Beginn des Abends erklärt, dass „dies“, gemeint ist doch wohl das Stück, das wir sehen werden, die Geschichte ihrer Freundschaft sei.
Sollte am Ende das nach mehr als sechsstündigem Theatererlebnis in helle Begeisterung ausbrechende Publikum der Meinung sein, dass das wahre Genie Elena Ferrante ist - wer auch immer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt.