Wenn Körper zu Ketten werden
Das Kafka-Jahr 2024 ist nun glücklich zu Ende. 100 Jahre ist er tot, aber der zu seinen Lebzeiten weitgehend unbekannte Autor fasziniert seine Leserschaft unverändert seit vielen Jahrzehnten. Sind es die vielfachen Interpretationsmöglichkeiten seines Werks (und seines Charakters), die heute noch das Interesse an diesem Autor wecken? Gewinnt das Kafkaeske, diese Bedrohung durch eine undurchschaubare Umwelt und durch die unsinnige und doch machtvolle Bürokratie in einer immer komplexer sich gestaltenden Welt an Aktualität? Beschrieb schon Kafka unsere geheimen Alpträume?
Die Theater jedenfalls haben Kafka gefeiert - die kleinen Privattheater ebenso wie die großen Tanker der Schauspielszene. Überraschend texttreu sind die meisten Regisseure mit dem Werk des Autors umgegangen - ausgerechnet die beiden großen rheinischen Häuser haben Experimentelles gewagt: Pinar Karabulut findet in ihrer Inszenierung von Kafkas Prozess am Schauspiel Köln ungewöhnliche ästhetische Lösungen (siehe hier), und Kamile Gudmonaite löst sich am Düsseldorfer Schauspielhaus weitgehend vom Text der Verwandlung und macht die alptraumartige Geschichte zum Leitmotiv einer Reflektion über die Akzeptanz des eigenen Körpers. Die beiden Privattheater in Bochum dagegen bleiben bei texttreuen Inszenierungen, die dennoch interessante künstlerische Facetten aufweisen: Remo Philipp am Prinz Regent Theater mit dem Prozess (siehe hier) und Oliver Paolo Thomas mit der Verwandlung am Rottstr5 Theater. Die beiden „Verwandlungen“ aus Bochum und Düsseldorf wollen wir einander gegenüberstellen.
In Ketten gelegt und ausgegrenzt: Gregor Samsa am Rottstr5 Theater in Bochum
Ketten durchziehen die Höhle des kleinen Theaters. Es sind die Fesseln, die Gregor Samsa daran hindern, weiter am Leben der Menschen teilzunehmen. Sie binden ihn an Armen und Beinen, und manchmal legen sie sich über Gregors gesamten Körper, um den Panzer des Käfers zu bilden, in den sich Gregor über Nacht verwandelt zu haben scheint. Dabei ist Gregor nach wie vor in die biedere Kluft des Angestellten gekleidet. Alexander Gier zeigt ihn als Menschen voller Pflichtbewusstsein, aber auch voller Angst: Längst unzufrieden mit seinem Job, hat er doch großen Respekt vor seiner Tätigkeit und seinem Arbeitgeber; seine ersten Gedanken nach der Verwandlung gelten der verpassten Fahrt ins Büro. Aber Giers Gregor ist auch ein großer Verdränger. Seine neue Behinderung will er nicht wahrhaben. Er schmiedet Pläne: Wenn er jetzt den Zug nicht mehr erreicht, der ihn pünktlich zur Arbeit bringt, dann schafft er bestimmt den nächsten. Und man fragt sich: Was ist das für eine Behinderung, die Gregor an sich wahrnimmt? Was mag er vorher schon alles verdrängt haben? Sind die Ketten, die Gregors Käfer-Panzer bilden, nur metaphorisch gemeint?
Kafkas Text und Oliver Paolo Thomas‘ Inszenierung am Rottstr5 Theater in Bochum geben dazu manche Hinweise. Man kann spekulieren über die heile Familie, in der Gregor sich zu Hause wähnte, über sein Ansehen in dem Unternehmen, für das er als Handelsvertreter tätig ist, über Selbstbild und Fremdbild. Alles Spekulation. Kafka sagt nichts dazu. Oder etwa doch? - Schon kommt der Prokurist und kontrolliert, warum Gregor noch nicht zur Arbeit erschienen ist. Durch die geschlossene Tür, die zu öffnen Gregor verwehrt ist, vernimmt der über Nacht mit „vielen kläglichen, dünnen Beinchen“ ausgestattete Handlungsreisende Klagen über seine nachlassende Leistung; sogar die Androhung einer Kündigung schwingt mit. Gregors Mimik drückt Panik und Verzweiflung aus. Im Theater an der Rottstraße breiten sich die Ketten in diesem Moment über Gregors ganzen Körper aus. In Bezug auf Gregors Arbeitsleben deutet sich eine Konstellation an, in der man auch als gesunder Mensch nicht aus dem Bett will. In der man anfällig ist für Depressionen. Aber: Alles Spekulation. Kafka sagt nichts dazu. Oder etwa doch?
Was ist die Ursache von Gregors Verwandlung? Als Käfer ist er ausgegrenzt vom Leben in der Familie, in Beruf und Gesellschaft. Ist diese Ausgrenzung neu? Aus dem Off erleben wir einen cholerischen Vater - cholerisch ist der sicher nicht erst seit dem heutigen Tag. Die Gespräche der Familie vermag Gregor mitzuhören, ohne sich an ihnen beteiligen zu können. Gregor kämpft; bemerkenswert ist Alexander Giers Körperbeherrschung, wenn er sich wie ein Käfer aufzurichten versucht, um auf Augenhöhe zu kommen und das Heft des Handelns wieder in die Hand zu nehmen. Bald greift die Mutter, zu Beginn noch mitleidig, zur Nebelmaschine - sie sprüht Gift gegen das Ungeziefer, das doch ihren Sohn darstellt. Die Schwester versorgt ihn zunächst und scheint empathisch. Gregor schwärmt von ihrem Zartgefühl, obwohl sie doch vor allem verfaultes Gemüse und ungenießbaren Käse bringt. Ja, das ist das, was Käfer mögen. Vielleicht ist die Schwester die Einzige, die sich in das neue Leben des in ein Insekt Verwandelten einfühlen kann. Aber liegt in ihrem Handeln nicht eigentlich Verachtung? Bald wird auch Grete über Gregor sagen: „Das muss weg!“ Wie lange, fragt man sich unwillkürlich, hat diese Ausgrenzung schon angedauert, bevor die Verwandlung zum Käfer erfolgte - in ein letztlich unterwürfiges Lebewesen, das sich schämt und noch im Tod Liebe empfindet zu einer Familie, die es im Stich lässt? Gregors Verhaltensweise und seine Empfindungen jedenfalls zeigen deutliche Anzeichen einer schweren Depression. Die Reaktionen von Familie und Arbeitgeber können wahlweise deren Ursache sein oder aus der Überforderung der Umwelt mit dem Umgang von Gregors Krankheit resultieren. In einer depressiven Phase hat man viele klägliche dünne Beinchen…
Vater, Mutter, Schwester und Prokurist treten nicht auf in der Bochumer Rottstraße. Man hört sie als Stimmen vom Band, es wird in der vom Regisseur erarbeiteten Textfassung von ihnen berichtet. Und doch suggeriert die Aufführung erfolgreich ihre Anwesenheit. Schauspielerisch trägt Gier den 70minütigen Abend allein auf seinen Schultern, unterstützt vom Sound-Mix von Jan Groenewold. In kurzen Momenten verliert man die Aufmerksamkeit, doch schnell holt die Inszenierung einen zurück, lässt mitfühlen, nachdenken, Interpretationen suchen. Eine davon bietet diese Rezension an – es muss nicht die richtige sein. Kafka sagt nichts dazu. Aber: „Das muss weg“? - Den Mechanismus einer Verwandlung von Mitleid in Ausgrenzung und Ablehnung, ja: sogar in Hass zeigt die Inszenierung überzeugend auf. Es ist eine andere Art der Verwandlung als die, die Gregor am eigenen Leibe spürt. In diesem Falle aber ist die eine ein Resultat der anderen.
Ketten gesprengt: Düsseldorfer Bürger lernen ihre Körper zu akzeptieren
Der Ketten und der phasenweise an einen Käfer erinnernden Bewegungen zum Trotz trägt der Bochumer Samsa die Kluft eines Angestellten. Auf keinen Fall solle man seinen Gregor als Insekt zeichnen, schrieb Franz Kafka an seinen Verleger Kurt Wolff. Und schwupps entert Gabriele Dittmar im Düsseldorfer Schauspielhaus in einem tollen Käfer-Kostüm die Bühne. Sie erzählt von ihrer Osteoporose, vom beschwerlichen Alterungsprozess ihres Körpers - und beginnt zu tanzen. Sie tanzt zu den ersten Sätzen aus Kafkas Erzählung, die Melek Beril Sargut mit kristallklarer Stimme: singt. Der Körper hat auch Melek einen Strich durch die Rechnung gemacht. Einst wollte sie Ballerina oder Musical Star werden. Doch dann konnte sie dem Kühlschrank nicht widerstehen. Die sympathische Sängerin fühlt sich zu füllig.
Im Programmheft liest man von der gesellschaftlichen und politischen Funktion des Körpers, vom Körper als „Projekt“ oder als „soziale und kulturelle Kategorie“, vom Körper als Träger der Identitätspolitik. Erfreulicherweise lässt sich das charismatische, exzellent geführte Laien-Ensemble des Düsseldorfer Stadt:Kollektivs bei seinen oft berührenden Erzählungen von solch überflüssigem ideologischem Ballast nicht irritieren. Hier stehen Menschen auf der Bühne, die aus den unterschiedlichsten Gründen mit ihren Körpern hadern oder - was möglicherweise noch weit belastender ist und Kafkas Erzählung mindestens ebenso entspricht - mit deren Körpern ihre Umwelt hadert. Und diese Menschen erzählen ihre ganz individuellen, persönlichen Geschichten; allenfalls die „Feministin und Pessimistin“ Elena greift einmal darüber hinaus und begibt sich auf eine politische Ebene. Das Thema Scham spielt auch hier eine Rolle: die Scham beim Betrachten des eigenen Körpers im Spiegel, die Scham der Brüder über die angeblich hässliche Schwester. Aber es scheint, als hätten alle sieben Akteure das Stadium der Scham überwunden und wären zu einer Akzeptanz des eigenen Körpers gelangt. Tatsächlich hätte keine und keiner der sieben hätte Grund zu mangelndem Selbstbewusstsein. Wie bei Kafka hat bei vielen erst die Reaktion der Außenwelt zu Verunsicherung geführt.
Elena, intelligent und reflektiert, bemängelt, dass die erste Reaktion ihrer Mitmenschen sich nicht auf ihre Qualifikationen, sondern auf ihren Körper beziehe: Sofort werde sich als „zu dünn“ abqualifiziert. Inga, mit vier Jahren schon ein Child Model, wurde von der ehrgeizigen Mutter zur Diät angehalten und entwickelte eine krankhafte Essstörung. Bis dass sich ihr Körper wehrte: Aufgrund zu radikaler Hungerkuren ist sie heute an Krücken gebunden; möglicherweise hat sie zu ihrer Essstörung eine Depression entwickelt, denn auch sie berichtet von Antriebsschwäche und der Schwierigkeit, aus dem Bett zu kommen. Als Schauspielerin überzeugt sie durch große Ausstrahlung und das Bewusstsein für die Wirkung kleiner, nur angedeuteter statt hinausposaunter Gesten und Laute: Das ist schon hohe Schule! Len Königs zwingt sein Körper immer wieder zu längeren Krankenhaus-Aufenthalten, doch auf eine ganz eigene Art ist auch er widerständig geworden.
Vor allem aber ist da Theodor, der sich aus gutem Grund lange Zeit nicht wohl in seinem Köper gefühlt hat. Er beschreibt Symptome einer Angststörung: „In meinen Kopf kriecht der Gedanke, dass ich mir Körperteile entfernen muss, um Erleichterung zu spüren.“ Er scheint am nächsten bei der Geschichte von Gregor Samsa und berichtet von der anfangs keineswegs positiven Reaktion seiner Familie auf seine bevorstehende Verwandlung. Bei ihm „hat die Biologie ihr Versprechen gebrochen“: Theo wurde als Mädchen geboren und befindet sich mitten in einem Geschlechtsumwandlungsprozess. Er singt Bariton und zeigt großartige feminine Tänze. Er hat die poetischsten Texte und den meisten Mut: „Mein Körper ist der Beweis für das Mögliche, das nicht zu begreifen ist“, sagt er. Und ist auf dem Weg zu Akzeptanz und hoffentlich auch Glück.
Theodors Monolog gegen Ende ist einer der Höhepunkte einer herausragenden Arbeit, die zeigt, zu welchen Höhenflügen das Theater mit Laien imstande ist, wenn diese von einer einfühlsamen und wagemutigen Regie begleitet werden. Regisseurin Kamile Gudmonaite verzahnt die einzelnen Geschichten zu einer perfekten Collage und verbindet sie mit großartigen Choreografien. Sie lässt sie von Dominykas Digimas mit einem grandiosen, oft bedrohlichen Soundtrack untermalen und findet für die Aufführung einen perfekten Rhythmus. Manchmal bildet die Musik den Horror der körperlichen Verwandlung ab, dann wieder bekommt sie eine somnambule Anmutung, wenn Elena mit einem asiatisch anmutenden Sonnenschirm über die Bühne spaziert. Inga imitiert kurze Vogelschreie oder das Klackern und Klopfen eines Insekts; durch kollektives Pochen an die acht Metallstangen auf der Bühne wird Bedrohung suggeriert. Fast immer bleibt Gregor Samsa präsent - nicht im Kostüm eines Käfers, sondern durch einzelne Sätze aus Kafkas Erzählung oder durch frappierende motivische Parallelen. Elena, die Pessimistin, singt einen Text aus Kafkas Tagebüchern: „geschlafen, aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben.“ Doch Gudmonaites Inszenierung verbreitet Optimismus, nicht Pessimismus. Elena und Melek tanzen zu Kafkas dunklem Text. Die vermeintlich zu Dicke und die vermeintlich zu Dünne tanzen wie die Elfen; sie werden leicht und frei, und sie scheinen dahinzufliegen wie ein aus Ketten befreites Insekt in die Freiheit. Magisch!