Aus dem Schatten der Verleugnung auf die Bühne
„Wir denken uns jetzt eine Geschichte aus“, beginnt das Stück. Es geht um eine Geschichte, vor der die Journalistin Nora zwar Angst hat, der sie sich aber dennoch widmen will. Es wird eine fiktive Geschichte sein, die jedoch von erschreckenden historischen Fakten handelt.
Nora ist Investigativ-Journalistin (etwas bieder besetzt und gegeben von Zainab Alsawah), die die Schatten des Verleugnens und Verdrängens von dem Massaker reißen will, das am 1. Dezember 1944 im Senegal in der Kaserne von Thiaroye von der französischen Kolonialarmee an westafrikanischen Soldaten verübt wurde.
Das Depot 2 hat keine Drehbühne, aber es gibt ohnehin Sinn, dass die unterschiedlichen Handlungsstränge und Räume wie Filmsets nebeneinandergesetzt sind, alle mit großen Projektionsflächen versehen, auf denen sowohl historische Dokumente als auch bebilderte Alpträume und Traumata erscheinen. Räumlich und zeitlich laufen die Ereignisse, Irrwege und Analysen zunächst parallel, bedingen aber einander und vereinen sich dann in der letzten Szene in einem umfassenden Ritual miteinander: eine mögliche Befreiung. Theater als Aufklärung und Therapie.
Doch zunächst beginnt das Spiel im zentralen Bühnenraum in einem opulenten Doppelbett im Jahr 1970 in Paris. Die Jahreszahl wird eingeblendet und zwei Verliebte erzählen sich kuschelnd ihre Lebensgeschichten: Nina (eindrucksvoll: Katharina Schmalenberg), Tochter einer Rumänin und eines deutschen Soldaten, hat sich als rumänische Dissidentin in Paris eingelebt und in Amar (etwas spröde: Serge Fouha) verliebt, der im Senegal geboren und von einer französischen Familie adoptiert wurde. Sein Vater war einer der westafrikanischen Soldaten, der „Senegalschützen“, die für die Kolonialmacht Frankreich im Zweiten Weltkrieg kämpfen mussten, an der Siegesfeier aber nicht teilnehmen durften, vielmehr nach Afrika zurückverschifft und in Internierungslager gesteckt wurden. Angeblich, um auf ihren Sold zu warten, den sie dann aber nie bekamen. Sie wurden von den französischen Kameraden brutal erschossen und irgendwo verscharrt. Eben an jenem 1. Dezember 1944.
Amar hat Alpträume, riesig erscheinen dazu bizarre Figuren auf den Leinwänden. Nina versucht ihn abzulenken. Vergeblich. Als die beiden einen Sohn bekommen, verlangt Nina, ihm nichts von der belastenden Vergangenheit zu erzählen, um ihn vor den Traumata der Eltern und Großeltern zu schützen. Das kann Amar nicht nachvollziehen. Mit der Überzeugung: „Gedemütigte Eltern bekommen wütende Kinder“, fühlt er sich zur Wut und Aufarbeitung gedrängt und bricht auf, die Geschichte der Senegalschützen zu recherchieren. Er ist sich sicher, im Land der Täter nicht weiter stumm bleiben zu dürfen. In eher nüchternen als wütenden Monologen, mal von Amar, mal von Nora direkt ans Publikum gerichtet, mal aus dem Off erfahren wir Details zu den Ereignissen im Senegal und ihrer Vertuschung. Dazu die Vermutung, dass die Verbrechen aus Angst vor einer möglichen Rebellion der Westafrikaner geschehen sind. Um das nicht einzugestehen, wurde in der Berichterstattung das Massaker in die Niederschlagung einer Meuterei uminterpretiert.
In kunstvollen Einschüben in diesen Handlungsstrang spielt sich im linken Bühnenbereich ein eigenes Geschehen ab. Unter der Einblendung des Jahres 2005 pflegt dort der desillusionierter Lehrer Regis (überzeugend verstört: Glenn Goltz) seinen sterbenden Großvater und versucht vergeblich, das Zerwürfnis zwischen Vater und Großvater zu verstehen oder gar zu beenden. Nach dessen Tod die erschreckende Aufklärung: Der Alte hinterlässt exakte Angaben zum Massaker von Thiaroye, zu deren Tätern er gehört. Weder vom Vater noch Großvater hatte Regis je erfahren, welche grausamen Schatten über der Familie lagen.
Unter den Papieren sind auch Briefe von Amars Vater, die nie die Familie erreichten. Regis übergibt sie Nora für ihre journalistische Arbeit, die auf der Suche nach Amar auf Nina stößt. Die Handlungsstränge verknüpfen sich mit der Begegnung der Frauen, doch Nina bricht mit einem Schlaganfall dabei zusammen.
Auf der rechten Bühnenseite gleichfalls das Jahr 2005. Hier tummelt sich Biram (temperamentvoll: Leonard Burkhardt), der inzwischen erwachsene Sohn von Nina und Amar als leicht überdrehter Banker und Partyboy. Geschichtslos aufgewachsen, weiß er nicht einmal, dass er den Namen seines in Thiaroye ermordeten Großvaters trägt.
Dann trifft er im Krankenhaus auf Nora. Wie ein Donnerschlag trifft ihn die Geschichte seiner Familie und das gesamte Geschehen erreicht eine neue psychologische Tiefe im Ringen um Worte und Verständnis. Biram stellt seiner sprachlosen Mutter jetzt die richtigen Fragen, auch wenn er sie selbst beantworten muss: „Wir erben Schuldgefühle und Scham und Wut und das Gefühl der Ohnmacht“ Und er fragt, was schwerer zu beherrschen sei, Angst oder Scham. Er trifft auf Regis, beide sprechen miteinander, einer der Enkel des Täters, einer der Enkel eines Opfers. Sie beide haben den Schmerz der Eltern geerbt und versuchen, einander zu verstehen. Nina, äußerlich um jeden Buchstaben bemüht, zieht im Inneren Monolog die Bilanz ihres Lebens: „Ich habe immer die Gegenwart verteidigt, und trotzdem stecke ich in der Vergangenheit fest.“ Einer Vergangenheit, die ihre Schatten über sie alle wirft, sie alle darunter vereint.
Das Stück der rumänisch-französischen Autorin Alexandra Badea (der erste Teil der Trilogie Aus dem Schatten) bietet in seinem episch-pädagogischen wie auch politischen Ansatz einen komplizierten Text, den der Regisseur Poutiaire Lionel Somé streckenweise ein wenig deklamatorisch, nicht immer einfallsreich inszeniert. Eine schöne Ergänzung ist jedoch, dass Somé, der vom Film kommt, mit den kunstvollen Videos eine eigene Bildebene schafft.
Zum Schluss überrascht die Inszenierung mit einer raumgreifenden Spielszene: Alle Beteiligten treffen sich im Senegal in afrikanisch-festlichen Gewändern zu einem heilenden Ritual, zu einer Begräbniszeremonie am Massengrab der Opfer des Massakers von Thiaroye. Die Zeremonie wird überragt von der Nachbildung eines Baobab-Baumes, der im Senegal große Verehrung genießt und das Wappen des Landes ziert. Ein ergreifendes Ritual, das sicher authentisch ist, denn Somé ist selbst Enkel eines Ermordeten „Senegalschützen“, eines Soldaten aus seiner Heimat Burkina Faso, denn nicht nur Soldaten aus dem Senegal, sondern aus allen westafrikanischen Kolonien, befanden sich im Lager von Thiaroye, nahe der Hauptstadt Dakar.
„Kinder spielen auf dem Massengrab, das Leben erholt sich“, heißt es zum Schluss. Doch nach der friedensstiftenden Feierlichkeit erinnert ein eingeblendeter Wandtext noch einmal an die politische Realität: Er zitiert den Auszug einer Rede, die der damalige Präsident Frankreichs Sarkozy am 26. Juli 2007 in Dakar hielt, in der er den Zuhörern unterstellte, „allzu sehr in einer bequemen Opferrolle zu verharren“. Im Programmblatt wird allerdings auch erwähnt, dass Präsident Macron als erstes französisches Staatsoberhaupt - in einem Brief an die senegalesischen Autoritäten zum 80. Jahrestag des Verbrechens von Thiaroye am 1. Dezember 2024 - das Geschehen als „Massaker“ bezeichnete.